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Wie vielfältig Städte und Gemeinden ihre Einwohner:innen beteiligen

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Beispiele aus Deutschland und Frankreich
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Musiker spielen auf einem Markt.
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Musiker spielen auf einem Markt in Loos-en-Gohelle. | Foto: Loos-en-Gohelle (CC BY-SA 2.0 Deed)
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Bürger:innenräte sind nicht das einzige Mittel für Kommunen, um Einwohnner:innen bei der sozial-ökologischen Transformation mit- und Impulse aus der Gesellschaft aufzunehmen. Wie lässt sich das politische Versprechen von Partizipation und Mitgestaltung vor Ort einlösen? Julia Plessing berichtet über verschiedene Ansätze aus Deutschland und Frankreich.
Date de publication / Veröffentlichungsdatum
17.02.2025
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Von Dr. Julia Plessing 
Übersetzt ins Französische von Marion Davenas und Marie Millot-Courtois

 

2023 waren 93 Prozent der Europäer:innen der Ansicht, dass der Klimawandel ein ernstes Problem für die Welt ist (Eurobarometer 2023). Und dennoch gewinnen Parteien, die Klimaschutzmaßnahmen abbauen wollen, an stetigem Zuspruch. Die Komplexität der Herausforderungen unserer Gesellschaften, nicht zuletzt der fortschreitende Klimawandel, und der Umgang damit werden immer schwieriger zu vermitteln. Inzwischen gehen Studien von einer „gemeinsamen Frontstellung gegen eine Klima- und Transformationspolitik, die als sozial unausgewogen, übereilt und ideologiegetrieben wahrgenommen wird“ aus (Eversberg et al. 2024).

Die lokale Ebene ist oftmals der Ort, an dem Konflikte insbesondere rund um die Energiewende am offensichtlichsten ausgetragen werden. Doch sind Kommunen auch der Ort, an dem Konflikte gelöst und gemeinsame Zukunftsvisionen entwickelt werden können. Kommunen können Einwohnende bei der sozial-ökologischen Transformation mitnehmen und gleichzeitig Impulse aus der (Zivil-) Gesellschaft aufnehmen. Doch wie gelingt es ihnen, das politische Versprechen von Partizipation und Mitgestaltung einzulösen?

Die repräsentative Demokratie reicht dazu erfahrungsgemäß nicht aus. Denn es geht beim sozial-ökologischen Umbau nicht nur um das Was, sondern auch um das Wie, und lokale Regierungen können zumeist nicht auf den nächsten Gang zur Urne warten, um ein Projekt von Bürger:innen absegnen zu lassen. Dazu braucht es auch zwischen den Wahlen eine Kooperation mit Einwohnenden.

Bürger:innenräte werden als zeitgemäße Ergänzung der repräsentativen Demokratie beworben. Sie bestehen aus heterogen zusammengesetzten Gruppen von Bürger:innen, die gemeinsam Lösungen für politische Probleme, so zum Beispiel zu Nachhaltigkeitsfragen, suchen und diese den Stadt- und Gemeinderäten vorlegen. Sie sind ein vielversprechendes Instrument, welches vielerorts in Erprobung ist.

Das Deutsch-Französische Zukunftswerk ist jedoch in seiner Arbeit zur Energiewende auf lokaler Ebene in Deutschland und Frankreich immer wieder auf Kommunen gestoßen, die auf vielfältige andere Weisen beteiligungsorientiert arbeiten und ihre Einwohnenden in die Energiewende einbinden.

Finanzielle Beteiligungskonzepte

Die ländliche Gemeinde Hoort in Mecklenburg-Vorpommern konnte durch finanzielle Beteiligung seine Einwohner:innen vom Projekt eines Windparks überzeugen, der 2020 in Betrieb ging. Das Besondere an diesem Projekt: Vier der sechzehn Windräder wurden von der ortsansässigen Windpark Hoort 2 GmbH & Co. KG gekauft. Diese gehört knapp zur Hälfte der Gemeinde Hoort, den Rest der Anteile halten Hoorter Bürger:innen sowie Umlandgemeinden und der lokale Energieversorger. Die Gemeinde konnte so durch die Gewinnausschüttungen und Pachteinnahmen ihren Haushalt sanieren und für die nächsten 20 Jahre sichern. Die Einnahmen fließen zum Beispiel in die Renovierung des Gemeindezentrums oder in den Betrieb der örtlichen Kindertagesstätte. Bei den Bürger:innen vor Ort führt dies zu einer hohen Identifikation mit „ihrem“ Windpark.

Information und Transparenz

Die Stadt Tamm im Landkreis Ludwigsburg hat im Schnelltempo ein klimaneutrales Wärmenetz aufgebaut, das seit Anfang 2024 erste Einwohner:innen mit bezahlbarer Wärme versorgt. Bis 2030 soll der gesamte alte Ortskern mit dem Netz verbunden und die Erzeugungsanlagen errichtet werden. Neben dem Tempo in der Umsetzung ist Tamm ebenso ein inspirierendes Beispiel dafür, wie eine Gemeinde ihre Bevölkerung aktiv in die Wärmewende einbeziehen kann. Durch kontinuierliche Informationsarbeit und ohne Anschlusszwang erreichte sie eine 80-prozentige Anschlussrate der Anwohner:innen an das neu gebaute Wärmenetz. Dies gelang ihr durch eine umfassende Informationspolitik. So finden seit Dezember 2021 Online-Veranstaltungen für alle Anwohner:innen und Interessierte statt. Zu Projektbeginn wurde auf der Tammer Internetseite ein Bautagebuch mit aktuellen Fotos von der Baustelle eingerichtet und die Ausbauplanung detailliert vorgestellt. Weitere Informationsformate umfassen Wochenmarktstände, Informationsflyer, den direkten Austausch mit Eigentümer:innen und Mieter:innen an der geplanten Ausbautrasse sowie persönliche Beratungsgespräche bei der Energieagentur LEA. Zusätzlich werden alle an einen Bauabschnitt angrenzenden Haushalte vor Baubeginn per Postwurfsendung und bei Vollsperrungen über eine Anzeige im Amtsblatt informiert. Diese Politik kann die Stadt auch deshalb verfolgen, da sie im April 2023 ein Klimaschutzamt mit drei Mitarbeitenden einrichtete, zu deren Aufgaben unter anderem der Ausbau der erneuerbaren Energien gehört.

Partizipative Kulturarbeit

Die ehemalige Bergbaustadt Loos-en-Gohelle hat sich durch partizipative Kulturarbeit von einer vom Bergbau geprägten zu einer nachhaltigen Vorzeigestadt entwickelt. Bereits seit Anfang der 90er-Jahre gestalten Looser Bürger:innen das jährliche Kulturfestival „Les Gohélliades“. Gleichzeitig setzte die Stadt auf eine narrative Methode: la mise en récit. Durch gemeinsames Erzählen auf dem Festival und in vielen anderen Formaten erzählen sich Einwohner:innen ihre Geschichten und Biographien. Was hat das mit der Energiewende zu tun? Durch diese Maßnahmen konnten die Bewohner:innen zunächst um die gemeinsame Bergbauvergangenheit trauern, um dann ebenso gemeinsam in die Zukunft zu blicken. Auf dieser Basis entwickelt die Kommune gemeinsam mit der Bevölkerung nachhaltige Projekte, vom biologischen Gemüseanbau bis zur Installation von Photovoltaikanlagen. So ist sie unter dem Motto „du noir au vert“ (zu Deutsch von schwarz zu grün) zur Pilotstadt der nachhaltigen Entwicklung geworden.

Die hier beschriebenen Beispiele zeigen, dass Kommunen auf ganz unterschiedliche Arten und Weisen ihre Bevölkerung am sozial-ökologischen Umbau beteiligen können. Ob durch Information, finanzielle Beteiligung oder langfristige beteiligungsorientierte Kulturarbeit. Es gibt hier keine Blaupause. Wenn Einwohnende sich ernst genommen fühlen, sich aktiv einbringen oder gar finanziell profitieren können, dann entsteht bei ihnen auch größeres Verständnis für die lokale Energiewende. Die kommunale Ebene muss aufgrund ihrer Nähe zu den Bürger:innen daher als ein wesentliches Wirkungsfeld eines neuen sozial-ökologischen Vertrags begriffen werden.

Alle Beispiele verdeutlichen jedoch auch, dass eine beteiligungsorientierte sozial-ökologische Transformation langfristiges Engagement, Professionalität und Ressourcen braucht. Die jetzige politische Lage zeigt: Die Einbeziehung von Bürger:innen ist kein „nice to have“. Sie ist essenziell, wenn wir eine Transformation schaffen wollen, die gleichermaßen ökologisch und sozial ist.

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Leseempfehlung

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  • Eine ausführlichere Fassung dieses Artikels wird im DFI Frankreich Jahrbuch 2024, welches im Frühjahr 2025 erscheint, veröffentlicht
  • Eversberg, Dennis et al. (2024): Der neue sozial-ökologische Klassenkonflikt, Frankfurt/M.: Campus Verlag