Verkehrswende, aber gerecht!
Angesichts der zahlreichen sozialen Facetten der Mobilitätswende hätte unser Gespräch auch ein Fünf-Gänge-Menü begleiten können. Die aktuelle Mobilität privilegiert den motorisierten Individualverkehr (MIV). Sie sorgt damit für unzählige soziale Schieflagen, die in der Diskussion um CO₂-Emissionen meist zu kurz kommen. Das schlechte ÖPNV-Angebot trifft vor allem die „Zwangsmotorisierten“, die ihre weiten Wege nicht zu Fuß oder mit dem Rad bewältigen können. Gleichzeitig besitzt die Hälfte der unteren Einkommensgruppe zwar gar kein Auto, leidet aber überdurchschnittlich unter den Folgen von Luftverschmutzung und Lärmbelastung. Bei den besonders Benachteiligten spricht man von den fünf A: Arme, Alte, Arbeitslose, Ausländer:innen und Alleinerziehende. Aber auch Menschen mit Behinderung oder Frauen werden in Verkehrs- und Stadtplanung zu wenig mitgedacht. Zum Glück gibt es Vorreiterstädte, die beginnen, diverse Ansprüche an Mobilität zu berücksichtigen, beispielsweise die Seestadt Aspern bei Wien. Wie immer lohnt sich also ein Blick über den Tellerrand.
Bezüglich dieser sozialen Schieflagen gibt es kein Patentrezept, aber doch einige konkrete Lösungen: vergünstigte ÖPNV-Tickets für Sozialhilfeempfänger:innen, Taktausbau insbesondere im ländlichen Raum, kürzere Wege durch bessere Versorgungsinfrastruktur, und einen Straßenbau, bei dem Flächen zugunsten von Fußgänger:innen, Radverkehr und ÖPNV umverteilt werden. Sozial gedachte Mobilitätswende kann viel Positives leisten, so das Fazit von Janna Aljets.
Auf Bürgerbeteiligung und Kommunikation kommt es an
Welche konkreten Veränderungsmöglichkeiten sehen Menschen in Deutschland und Frankreich? Unsere Gäste teilten einige Eindrücke aus den beiden Ländern. So plädierte ein Teilnehmer aus Lyon für die aktive Kommunikation der Kommunen, wenn es um die Umverteilung von Flächen geht. In Lyon gelang es, zahlreiche Bedenken auszuräumen und Akzeptanz für Verkehrsmaßnahmen zu schaffen. Ähnliche Erfahrungen hatte eine Teilnehmerin aus München: Dort konnten über zweieinhalb Monate hinweg 40 Parkplätze für Begrünung und Neunutzung umgewidmet werden. Das Erfolgsrezept gelungener Kommunikation: Maßnahmen werden vor allem dann akzeptiert, wenn der Fokus nicht auf Verzicht, sondern auf der gewonnenen Lebensqualität liegt.
Das Münchner Projekt orientiert sich an den sogenannten Superblocks, die inzwischen über ihre Gründerstadt Barcelona hinaus bekannt sind (zum Beispiel durch die Berliner #Kiezblock-Kampagne). In diesen etwa 400 mal 400 Meter großen Straßenblocks wird der motorisierte Verkehr weitestgehend ausgeschlossen und dadurch der freiwerdende Raum neu genutzt. Doch selbst wenn der Wille zu solchen Projekten besteht, stößt man in Deutschland schnell auf rechtliche Grenzen: Die Straßenverkehrsordnung (StVO) mit ihrem Leitbild von der autogerechten Stadt lässt für solche Projekte nach wie vor nur sehr wenig Schlupflöcher. Eine Reform sei überfällig und eine entscheidende Stellschraube für die Mobilitätswende, so die Teilnehmerin aus München. Dafür gibt es bereits einen breiten Konsens, die Agora Verkehrswende hat erst kürzlich eine Zusammenfassung der verschiedenen Vorschläge veröffentlicht.
Soziale Gerechtigkeit auf die Agenda bringen
Natürlich konnte unser gemeinsames Mittagessen nicht enden, ohne sich dem 9-Euro-Ticket und seinen sozialen Auswirkungen zu widmen. Mit dem bundesweit gültigen Monatsticket waren in Deutschland von Juni bis August 2022 viele Menschen so mobil wie nie zuvor. Doch sowohl der gleichzeitige Tankrabatt als auch die Überlastung der ÖPNV-Infrastruktur haben deutlich gemacht: Das 9-Euro-Ticket allein ist kein Heilsbringer, insbesondere wenn der MIV weiter unverhältnismäßig subventioniert wird. Anstelle eines Gießkannenprinzips brauchen wir strukturelle Verbesserungen des ÖPNV: Taktausbau und günstigere Tickets für Einkommensschwache. Die positive Folge des Tickets war für Janna Aljets, dass die Diskussion um Mobilität nun endlich in Verbindung mit sozialer Gerechtigkeit gesehen wird.
Auch in unserer Transformationsküche wurde deutlich, wie viele gesellschaftliche Fragen jetzt offen zur Diskussion stehen: ländliche Infrastruktur und Stadt-Land-Gerechtigkeit, Tarifgestaltung und Fahrpläne im ÖPNV, Flächenumverteilung in der Stadt. Mobilität kann nur dann einen Wandel erleben, wenn Bürger:innen die Prozesse vor Ort mitverfolgen und aktiv mitgestalten können. Wir danken allen Teilnehmenden unserer Transformationsküche für den spannenden Austausch!
Die Transformationsküche
Gute Gespräche und neue Ideen kommen oft außerhalb von klassischen Meetings zustande – zum Beispiel in der Mittagspause. Mit der Transformationsküche möchten wir einen Raum öffnen, um uns ähnlich wie beim ungezwungenen Plaudern in der Kaffeeküche zu Fragen aus dem Themenkomplex „nachhaltige Stadtentwicklung“ auszutauschen.
Die Transformationsküche findet in der Mittagspause statt: allen Teilnehmenden ist es explizit gestattet, während der Veranstaltung zu essen. Wer mag, kann gerne das Büro verlassen und sich aus der Küche zuschalten.
Die Transformationsküche ist ein kurzes, entspanntes Diskussionsformat: Wir treffen uns nur für eine knappe Stunde - genug, um Appetit auf Mehr zu bekommen!
Sie haben Lust mitzureden? Setzen Sie sich mit uns an einen Tisch und tauschen Sie sich mit Kommunen und der Zivilgesellschaft aus Deutschland und Frankreich über Möglichkeiten des sozial-ökologischen Wandels aus. Mehr Informationen zur Transformationsküche finden Sie hier.