Suffizienz als Chance begreifen

In Deutschland ist der Begriff „Suffizienz“ – das Pendant zur französischen Sobriété – in Medien und Politik noch weitestgehend unbekannt, während er sich in Frankreich im letzten Jahrzehnt als unverzichtbarer Bestandteil der Klimaschutzpolitik etabliert hat. Nichtsdestotrotz wird Suffizienz jenseits des Rheins weiterhin hauptsächlich unter dem Aspekt kurzfristiger, individueller Verhaltensanpassungen im Alltag betrachtet, die vor allem in Zeiten der Energieversorgungskrise mobilisiert werden.
In der öffentlichen Debatte in Deutschland und Frankreich werden zwar unterschiedliche Aspekte von Suffizienz betont, jedoch fehlt es beiden Ländern an ambitionierten und strukturellen Maßnahmen, die nachhaltige und signifikante Veränderungen in der Praxis fördern. Dies ist jedoch eine zentrale Voraussetzung für eine ökologische Transformation, da eine CO₂-Neutralität nicht ohne eine deutliche Reduktion des Ressourcenbedarfs erreicht werden kann
In ihrem Diskussionspapier „Wege zum Genug“ stellen Marion Davenas und Thomas Spinrath sechs Denkanstöße vor, die auf über zweijährigen deutsch-französischen Dialogen basieren. Diese wurden vom Deutsch-Französischen Zukunftswerk zwischen Kommunen, Expert:innen und Praktiker:innen aus beiden Ländern geführt. Ihr Fazit lautet eindeutig: Um nachhaltig wirken zu können, muss eine suffiziente Politik auf strukturellen und sozialverträglichen Maßnahmen aufbauen. Diese Maßnahmen allein müssen in der Lage sein, den Begriff der Suffizienz von seinem Ruf als Einschränkung und Verzicht zu befreien.
Suffizienz darf nicht einseitig als Politik der Konsumreduktion verstanden werden, sondern muss auch soziale Gerechtigkeit berücksichtigen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sie Mangel verschärft, ohne gleichzeitig Überversorgung zu reduzieren. Das ist vor allem dann der Fall, wenn die Anreize zu einem suffizienten Lebensstil ausschließlich auf einer undifferenzierten Preiserhöhung basieren, die einkommensschwache Haushalte deutlich stärker belastet als wohlhabende. Für Menschen in prekären Lebenslagen darf eine Suffizienzpolitik keine zusätzlichen Einschränkungen bedeuten, sondern muss ihnen im Gegenteil einen gerechteren Zugang zu Ressourcen verschaffen.
Lokale Initiativen zeigen, dass es möglich ist, Suffizienz und soziale Gerechtigkeit miteinander zu verbinden. In Karlsruhe bietet das Programm „Wohnraumakquise durch Kooperation“ den Eigentümer:innen leerstehender Wohnungen Garantien, um den Wohnraum von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen zur Verfügung zu stellen. Auf diese Weise trägt die Stadtverwaltung zu einer besseren Nutzung des vorhandenen Wohnungsbestands bei, was Menschen mit eingeschränktem Zugang zum Wohnungsmarkt zugute kommt.
Ein weiteres Beispiel findet sich in den französischen Städten Dünkirchen, Montpellier und Libourne, wo progressive Wassertarife eingeführt wurden. Hier erhalten die Einwohnenden die ersten Kubikmeter, die als Grundverbrauch gelten, kostenfrei oder zu einem ermäßigten Preis. In Montpellier beispielsweise erhalten die Menschen vor Ort 15 Kubikmeter Wasser pro Jahr kostenlos. Danach steigt der Preis progressiv und richtet sich nach dem Gesamtwasserverbrauch. Dieses Preismodell gewährleistet, dass Großverbraucher mehr bezahlen, ohne dass Kleinverbraucher durch eine allgemeine Preiserhöhung belastet werden.
Die Herausforderung besteht darin, den suffizienten Umgang mit Ressourcen sowohl effizient als auch wünschenswert und gerecht zu gestalten. Denn unser Lebensstil muss sich ändern, ohne Ungleichheiten zu verschärfen, Ungerechtigkeitsempfinden zu schüren, Widerstände gegen die Klimapolitik zu verstärken und den Klimawandel zu beschleunigen.
📄 Weitere Informationen zu den sechs Thesen aus den deutsch-französischen Dialogen finden Sie in der Publikation „Wege zum Genug".