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„Unsere Welt befindet sich in einer beispiellosen Krise – und dennoch fürchten wir die Suffizienz“

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Timothée Parrique
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Une personne vêtue de noir, aux cheveux courts et foncés, avec une moustache, est assise sur un escalier.
Légende
Thimothée Parrique | Foto: Odile Meylan
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Beim Thema Suffizienz sind die Augen in Deutschland nach Frankreich gerichtet. Denn dort ist „sobriété“ fester Bestandteil der Nachhaltigkeitsstrategie. Ökonom Timothée Parrique blickt kritisch auf die französische Suffizienzpolitik. Für ihn verlangt die Klimakrise danach, viel weiter zu gehen und die vorherrschende Wirtschaftslogik grundlegend zu hinterfragen. Marion Davenas hat mit ihm gesprochen.
Date de publication / Veröffentlichungsdatum
21.04.2025
Contenu / Inhalt
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Interview auf Französisch von Marion Davenas
Ins Deutsche übersetzt von Annette Kulzer

 

Das Deutsch-Französische Zukunftswerk empfiehlt der Bundesregierung in seinen politischen Handlungsempfehlungen, dem französischen Beispiel zu folgen und Suffizienz als zentralen Hebel der Energiewende zu verankern. Der Ökonom Timothée Parrique steht der politischen Umsetzung in Frankreich kritischer gegenüber. Seiner Ansicht nach reicht es angesichts der Klimakatastrophe nicht aus, Suffizienz lediglich als Strategieelement zu betrachten – vielmehr müsse die zugrunde liegende ökonomische Logik hinter heutigen Lebensstilen grundlegend hinterfragt werden. Marion Davenas sprach mit ihm über wirtschaftliche Paradigmen, gesellschaftliche Ängste und die Notwendigkeit struktureller Veränderungen.

In unseren Gesprächen mit politischen Entscheidungsträger:innen und Führungspersönlichkeiten in Deutschland und Frankreich begegnen wir häufig der Auffassung, dass Suffizienz Ängste auslöst. Sie wird oft mit Einschränkung, Verzicht und wirtschaftlichem Abschwung assoziiert. Können Sie als Ökonom diese Bedenken nachvollziehen?

Es ist paradox: Während sich das Klima erwärmt und die Biodiversität dramatisch zurückgeht, stehen wir vor einer beispiellosen ökologischen Krise – und dennoch fürchten wir die Suffizienz. Diese Angst ist irrational, vergleichbar mit einer Phobie vor Nikotinpflastern, wenn man mit dem Rauchen aufhören möchte.

Témoignage / Text
„Die Erde ist ein Opfer unser Wirtschaftslogik.“
Texte / Text

Ist die Erde ein Opfer unserer Konsumgewohnheiten?

Sie ist vielmehr ein Opfer unserer Wirtschaftslogik. Wir opfern den zentralen Produktionsfaktor – die Natur – in dem fehlgeleiteten und zudem ineffektiven Versuch, das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) anzukurbeln, das ohnehin ein unzureichender Indikator für Wohlstand ist. Selbst für jene, die weiterhin an die Glücksformel des BIP glauben, ist die wissenschaftliche Erkenntnis eindeutig: Die Kosten des Nicht-Handelns übersteigen stets die Kosten des Handelns. Unabhängig von den gegenwärtigen wirtschaftlichen Herausforderungen – sei es in den Bereichen Staatsfinanzen, nationale Sicherheit oder öffentliche Gesundheit – werden sich diese in einer Welt mit geschädigten Ökosystemen noch weiter verschärfen.

Derzeit konzentrieren sich Maßnahmen zur Ressourcenschonung oft auf individuelle „kleine Gesten“: die Heizung herunterdrehen, kürzer duschen, das Licht ausschalten… Das Deutsch-Französische Zukunftswerk empfiehlt den Regierungen beider Länder, über bloße Sensibilisierung hinauszugehen und strukturelle Maßnahmen zu ergreifen, die eine dauerhafte Einführung energieeffizienter Praktiken ermöglichen. Sie halten selbst diesen Ansatz für unzureichend…

Um den ökologischen Fußabdruck einer Volkswirtschaft zu verringern und innerhalb der planetaren Belastungsgrenzen zu bleiben, reicht es nicht aus, lediglich den Konsum zu reduzieren (was wir oft unter dem Begriff Suffizienz verstehen). Vielmehr muss auch die Produktion zurückgefahren werden. In diesem Sinne spreche ich von Wachstumsrücknahme (Degrowth) – einer gezielten Reduktion von Produktion und Konsum, um den ökologischen Fußabdruck substanziell zu verkleinern.

Wie könnte eine solche Reduktion konkret aussehen?

Man kann sich dies als eine Art „ökonomische Diät“ für wohlhabende Gesellschaften vorstellen. Eine wirksame Reduktion muss gezielt erfolgen – sie sollte diejenigen betreffen, die am meisten produzieren und konsumieren, und sich auf Bereiche konzentrieren, die besonders hohe ökologische Kosten verursachen. Gleichzeitig muss der Prozess demokratisch gestaltet werden, um soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Akzeptanz zu gewährleisten.

Es geht darum, eine positive Dynamik der wirtschaftlichen Verlangsamung zu schaffen: Vereinfachen wir unsere Konsumbedürfnisse, verringert sich die Notwendigkeit der Produktion – und damit sinkt unser Verbrauch natürlicher Ressourcen. Ein Beispiel wäre eine Politik zur Reduzierung des Flugverkehrs: Man könnte Werbung für Flugreisen verbieten, massiv in den Schienenverkehr investieren und Flugpreise anheben – das wäre der Konsumverzicht. Gleichzeitig könnte man auf den Ausbau von Flughäfen verzichten, die Zahl der Flüge pro Tag reduzieren und nationale Flugverbindungen schrittweise einstellen – das wäre der produktive Verzicht.

Auf lokaler Ebene setzen einige Kommunen bereits Maßnahmen zur Konsumreduktion um. So hat die Metropolregion Lyon Werbeplakate weitgehend verboten, während Berlin Reparaturen von Haushaltsgeräten mit bis zu 200 Euro subventioniert. Gibt es auch Beispiele für produktiven Verzicht?

Die Niederlande, die den Viehbestand reduzieren, um Umweltverschmutzung einzudämmen, sind ein Beispiel. Oder das Einstellen einiger Inlandsflugverbindungen in Frankreich gemäß den Empfehlungen des Bürger:innenkonvents für das Klima. Oder die Kartäusermönche in der Großen Kartause bei Grenoble, die bewusst die Likörproduktion verringern, um mehr Zeit für das Gebet zu haben. Das sind alles Formen des produktiven Verzichts. Darüber hinaus könnte man das Verbot bestimmter Pestizide nennen, ein mögliches Moratorium für Tiefseebergbau oder die Strategien des Ausstiegs aus fossilen Brennstoffen von einigen Banken.

Sie schreiben: „Was wir tun müssen, um zu überleben, müssen wir auch tun, um besser zu leben.“ Doch für einen Teil der Bevölkerung bedeutet Suffizienz den Verzicht auf bestimmte Privilegien – wie häufiges Fliegen oder das Alleinleben in großen Wohnräumen. Wie lässt sich das vermitteln?

Ja, einige Bevölkerungsgruppen werden auf bestimmte Privilegien verzichten müssen, beispielsweise auf häufige Flugreisen. Statistisch betrachtet ist dies jedoch ein vergleichsweise geringes Opfer. Diese Einschränkungen für eine Minderheit werden dadurch ausgeglichen, dass sich die Lebensqualität vieler durch eine stabilere Umwelt nicht weiter verschlechtert.

Die anstehenden Entscheidungen werden nicht leicht sein. Wir müssen unsere Bedürfnisse vereinfachen, Produktionsweisen neu organisieren und lernen, Ressourcen stärker zu teilen. Doch wir haben letztlich keine Wahl: Entweder wir gestalten diesen Übergang heute aktiv und klug – oder wir laufen Gefahr, ihn morgen unkontrolliert und krisenhaft durchleben zu müssen.

Témoignage / Text
„Weg vom Wachstum, hin zu einer ‚Wirtschaft des Wohlbefindens'.“
Texte / Text

Die Idee der Wachstumsrücknahme ist nicht neu, aber sie setzt sich nur schwer durch. Das Deutsch-Französische Zukunftswerk betont die Notwendigkeit, die Perspektiven zu wechseln, um Suffizienz als ein positives und inspirierendes Ziel zu vermitteln. Welche Strategien schlagen Sie vor, um die gesellschaftliche Akzeptanz von Suffizienz zu fördern?

Angesichts begrenzter ökologischer Budgets muss genau überlegt werden, für welche Produktionen sie eingesetzt werden sollen. Eine Reduktion weniger essenzieller Güter und Dienstleistungen könnte Mittel für gesellschaftlich wertvolle Bereiche freisetzen. Es ist paradox, Wachstumsrücknahme als Bedrohung der Lebensqualität zu betrachten, wenn ihr Ziel genau das Gegenteil ist: den Übergang zu einer „Wirtschaft des Wohlbefindens“, die ohne permanentes Wachstum auskommt und dennoch die Bedürfnisse aller erfüllt, ohne planetare Grenzen zu überschreiten.

Frankreich hat – im Gegensatz zu Deutschland – Suffizienz explizit als einen Eckpfeiler seiner Strategie zur Energiewende definiert. Während der Energiekrise wurden auf höchster politischer Ebene Begriffe wie „das Ende des Überflusses“ ausgerufen und der Beginn einer „Logik der Suffizienz“. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Bisher sind es vor allem Worte ohne Taten. Frankreichs ökologischer Fußabdruck liegt weiterhin deutlich über den planetaren Grenzen, ebenso wie der ökologische Fußabdruck Deutschlands. Der Klimaschutz, nur ein Teilaspekt der ökologischen Krise, wird zwar intensiv diskutiert, doch mit enttäuschenden Ergebnissen – denn die tatsächliche Reduktion des CO₂-Fußabdrucks bleibt begrenzt.

Es wird viel über Suffizienz gesprochen, doch wir konzentrieren uns auf symbolische „kleine Gesten“ mit minimaler systemischer Wirkung. Während Bürger:innen zum Energiesparen aufgerufen werden, subventioniert der Staat weiterhin massiv den Luftverkehr, sodass Flugtickets oft nur ein Drittel so viel kosten wie Bahntickets. Suffizienz wird somit zu einem Schlagwort, mit dem geschickt versucht wird, eine Politik nicht nachhaltiger Wachstumsstrategien zu legitimieren – eine Form von „makroökonomischem Greenwashing“.
 

Timothée, vielen Dank für das inspirierende Gespräch!

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Über Timothée Parrique

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Timothée Parrique ist promovierter Wirtschaftswissenschaftler und forscht an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Lausanne. Er gilt als Experte für Wachstumsrücknahme (Degrowth) und ist Autor der vielfach beachteten Dissertation The Political Economy of Degrowth, die fast 70 000 ­­­Mal heruntergeladen wurde. Sein Essay Ralentir ou périr (Verlangsamen oder Untergehen) erschien in einer Auflage von über 40 000 Exemplaren.