Lokale partizipative Kulturarbeit als zentraler Hebel für sozial-ökologische Transformation
„Die Menschen haben ein so starkes Bedürfnis, ihre Wut, ihr Gefühl der Ungerechtigkeit, ihren Schmerz auszudrücken! Es ist absolut notwendig, Räume für diesen Ausdruck zu schaffen. Wir müssen diese Energie nutzen, um Maßnahmen zu ergreifen und Innovationen zu wagen.“
Geoffrey Mathon, Stellvertretender Bürgermeister von Loos-en-Gohelle
Inmitten einer strukturellen Krise nach der Schließung der Kohlebergwerke in den späten 1980er Jahren setzte die nordfranzösische Gemeinde Loos-en-Gohelle Kulturarbeit auf ihre politische Agenda. Die Gemeinde lud ihre Bewohner:innen durch partizipative Formate wie das jährliche Festival Les Gohélliades ein, ihre Geschichten zu erzählen, und regte eine kollektive Wertschätzung der gemeinsamen Bergbauvergangenheit an. Das „Erzählen“ entwickelte sich in Loos-en-Gohelle nach und nach von einem emanzipatorischen Instrument der Erinnerungsarbeit zum Leitsatz lokaler Politikgestaltung. Diese Räume des Ausdrucks eröffneten Möglichkeiten zum gemeinsamen Handeln und stärkten die Motivation der Menschen, sich dem Looser Projekt der sozial-ökologischen Transformation anzuschließen und sich in die Stadtgesellschaft einzubringen: Aus Schauspieler:innen auf der Bühne wurden aktive Mitgestalter:innen der Zukunft ihrer Stadt.
Die ehemalige Industriestadt Zeitz liegt im Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt und hat seit 1989 mit strukturellen Problemen wie Abwanderung, Überalterung und Wohnungsleerstand zu kämpfen. Eine dynamische Kulturbranche trägt jedoch in den letzten Jahren zum Wandel der Stadt bei. Ein Beispiel ist der Verein Kultur- und Bildungsstätte Kloster Posa, dank eines Pachtvertrages mit der Stadt angesiedelt auf einem historischen Klostergelände vor den Toren Zeitz‘. Die zivilgesellschaftliche Initiative möchte ihre Heimatstadt wiederbeleben und bereichert die lokale Kulturlandschaft seit 2013 durch vielfältige Kultur- und Bildungsangebote, welche Zeitzer:innen einladen, die Zukunft ihrer Stadt mitzugestalten.
Die Neue Leipzig-Charta für Stadtentwicklung [1] steht für einen ortsbezogenen Ansatz: Sie betrachtet Orte als „Bezugspunkte für den integrierten horizontalen und vertikalen Ansatz“ von Stadtentwicklungsstrategien und empfiehlt, letztere auf Grundlage „einer fundierten Analyse der spezifischen Situation vor Ort“ zu erarbeiten, um sozio-ökonomische Ungleichheiten zu verringern.
Die Erfahrungen von Loos-en-Gohelle und Zeitz zeigen, dass partizipative Kulturarbeit ein geeigneter Weg ist, ortsbezogene Stadtentwicklung umzusetzen, auch wenn ihre Methoden wie das Erzählen von Geschichten untypisch erscheinen. Partizipative Kulturarbeit unterscheidet sich dabei von klassischer Kulturförderung durch ihr Bestreben, die Einwohner:innen aktiv in die Gestaltung des lokalen Kulturangebots miteinzubeziehen. So ermöglicht sie unter anderem eine kollektive Beschäftigung mit der gegenwärtigen Situation eines Ortes oder seiner Geschichte, was eine positive Identifikation schaffen und die Verbundenheit der Bewohner:innen mit diesem Ort und der Umgebung stärken kann. Solche geteilten Anknüpfungspunkte erleichtern den Austausch und eröffnen neue Räume für Debatten über die entscheidenden Ressourcen eines Ortes und damit für ein gemeinsames Aushandeln seiner Zukunft.
Denn werden Veränderungsprozesse, wie sie beispielsweise zum Schutz des Klimas und der Anpassung an die Folgen des Klimawandels nötig sind, über die Köpfe der Bürger:innen hinweg beschlossen oder vollzogen, besteht die Gefahr, dass Transformationskonflikte entstehen. Widerstandshaltungen in der Gesellschaft können sich verschärfen oder eskalieren und Menschen sich resigniert aus dem lokalen öffentlichen Leben zurückziehen. Partizipative Ansätze der Kulturarbeit hingegen stärken das Engagement der Menschen für ihr räumliches Umfeld, unterstützen die Kooperationsfähigkeit der lokalen Akteure und Zivilgesellschaft(en) und tragen so zum Vertrauensaufbau zwischen Bürger:innen und Kommunalverwaltung bei.
Partizipative Kulturarbeit fördert Emanzipation und Empowerment der Bürger:innen. Dafür muss sie alle Altersgruppen und sozialen Schichten erreichen und Menschen mit ihrem gesamten Potenzial, ihren unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen beteiligen. Kultur ist hierbei kein Privileg, sondern schafft für alle offene und sichere Räume, die Begegnungen auf Augenhöhe ermöglichen.
[1] Die Neue Leipzig-Charta wurde von den zuständigen europäischen Minister:innen am 30.11.2020 beim Informellen Ministertreffen „Stadtentwicklung“ verabschiedet. Abrufbar auf Deutsch unter https://www.nationale-stadtentwicklungspolitik.de/NSPWeb/SharedDocs/Publikationen/DE/Publikationen/die_neue_leipzig_charta.pdf?__blob=publicationFile&v=7.
Kultur ist ein essenzieller Baustein für Regionalentwicklung. Der Dreiklang „Soziales, Ökologie und Ökonomie“ sollte um „Kultur“ als vierte, gleichwertige Säule ergänzt werden. Kultur umfasst dabei sowohl kollektiv mit den Einwohner:innen gestaltete Kulturprojekte und zugängliche Kulturangebote, als auch die gemeinsame Lebenswelt und das menschliche Zusammenleben vor Ort. Partizipative kulturelle Ansätze stärken Kompetenzen, welche für einen nachhaltigen Wandel auf lokaler Ebene entscheidend sind. Partizipative Kulturarbeit muss deshalb als Hebel für sozial-ökologische Transformation und entscheidender Faktor für wirtschaftliche und soziale Resilienz anerkannt werden.
Aktionsvorschlag
Dafür empfiehlt das Deutsch-Französische Zukunftswerk den Regierungen Deutschlands und Frankreichs die folgende Maßnahme zu ergreifen:
Die nationalen Regierungen sollten eine Beratungsstelle einrichten, welche insbesondere kleine und finanzschwächere Kommunen in Deutschland und in Frankreich im Sinne eines Mentorings begleitet. Diese Stelle sollte partizipative Kulturarbeit als Strategie für Regionalentwicklung anerkennen und Kommunen bei folgenden Aufgaben beraten und unterstützen:
- Der Durchführung lokaler Bedarfsanalysen (Gemeinschaftsdiagnosen) als Ausgangspunkt für die Formulierung neuer Projekte der Kommunen
- Der Stärkung der ortsbezogenen Identifikation der Menschen durch Instrumente der partizipativen Kulturarbeit
- Der Sichtbarmachung bereits bestehender Projekte und der Vernetzung lokaler Akteure über ein Mapping, das die Beratungsstelle leistet
- Der Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten für die Schaffung eines partizipativen Kulturangebots, die auch durch die Beratungsstelle selbst angeboten werden können
Für diese Beratungsstelle sollten die nationalen Regierungen keine neuen Strukturen schaffen, sondern das Angebot bereits bestehender Institutionen ausweiten. In Frankreich könnten beispielsweise die lokalen Entwicklungsagenturen[1] stärker für kulturelle Ansätze sensibilisiert werden, die in deren Ansatz bisher kaum Berücksichtigung finden. In Deutschland könnte etwa der inhaltliche Ansatz des Bundesverbandes Soziokultur e.V. und der 14 Landesarbeitsgemeinschaften soziokultureller Zentren und Initiativen Anknüpfungspunkt für diese Maßnahme sein.
[1] Die Agenturen für wirtschaftliche Entwicklung (Fr.: Agences de Développement Économique, ADE) sind auf Initiative von Gebietskörperschaften gegründete Vereinigungen, deren Aufgabe es ist, Strategien zur wirtschaftlichen Entwicklung der jeweiligen Region zu entwickeln und umzusetzen. Sie können auf Ebene der régions oder départements, aber auch auf lokaler Ebene, d.h. auf Ebene der Städte, Gemeinden und interkommunalen Verbänden, angesiedelt sein.