Design als Instrument zur Stadtgestaltung mit und für Bewohner:innen
Interview auf Französisch geführt von Kathrin Faltermeier
Die französische Stadt Saint-Étienne, 2010 von der UNESCO als „Kreativstadt des Designs“ ausgezeichnet, hat sich in der Welt des Designs einen Namen gemacht...
Und das als einzige französische Stadt unter den 43 „Creative Cities of Design“ – neben internationalen Metropolen wie Berlin, Helsinki, Montreal, Peking oder Turin! In Frankreich gilt Saint-Étienne heute als das Aushängeschild für Design. In dieser Stadt haben wir eine lange Design-Tradition: Bereits 1803 entstand die Hochschule für Kunst und Design, ein Wunsch der ansässigen Industriebetriebe, welche die Qualität ihrer Produkte verbessern wollten. Die 2005 in Saint-Étienne gegründete Cité du Design begleitet aber auch Projekte von Gebietskörperschaften und öffentlichen Einrichtungen.
Im Jahr 2011 waren Sie die erste Designmanagerin in einer Stadtverwaltung in Frankreich. Wie würden Sie die Rolle des Designs in Städten und Gemeinden beschreiben?
Das oberste Ziel von Designer:innen, die in Verwaltungseinrichtungen tätig sind, muss die Verbesserung der zu erbringenden öffentlichen Dienstleistungen sein. Design rückt die Nutzung und die Nutzenden in den Mittelpunkt eines Projekts. Design kann zur höheren Nutzungsqualität einer Ausstattung oder einer Dienstleistung beitragen und somit das direkte Umfeld der Menschen verbessern.
Das Anwendungsfeld von Design auf kommunaler Ebene ist riesig: Es umfasst zum einen alle öffentlich genutzten Räume wie Rathäuser, Schulen, Kulturzentren oder Plätze – und zum anderen auch alle Dienstleistungen, die für die Öffentlichkeit erbracht werden, wie das lokale ÖPNV-Angebot, die Müllabfuhr oder ein Fremdenverkehrsbüro.
Wie können wir uns Ihre Tätigkeit in Saint-Étienne vorstellen?
In Saint-Étienne ist das Design-Management dem Bereich „Standortentwicklung und -förderung“ zugeordnet und agiert transversal mit den verschiedenen Ämtern der Stadt und der Metropolregion. Meine Aufgabe ist die Verbesserung oder die (Weiter-)Entwicklung von öffentlichen Einrichtungen oder kommunalen Dienstleistungen mithilfe des Design. Plant die Verwaltung ein neues Projekt, schlage ich unterschiedliche Herangehensweisen vor, die auf den jeweiligen Kontext zugeschnitten sind – ich empfehle zum Beispiel Nutzungsdiagnosen oder partizipative Ansätze. Oder ich helfe bei der Erstellung von Anforderungsprofilen für Designaufträge und bei der Auswahl der Bewerber:innen. Selbstverständlich begleite ich die Projekte bis zu ihrer endgültigen Umsetzung.
In der öffentlichen Verwaltung ist es nicht immer einfach, die Ansätze von Designschaffenden zu vermitteln. Designer:innen und Verwaltungsmitarbeitende sprechen nicht unbedingt dieselbe Sprache –meistens klappt es aber recht gut!
Was macht der Design-Ansatz anders?
Nehmen wir als Beispiel das Projekt der neuen Straßenbahnlinie im Südosten von Saint-Etienne. Wir haben Design als Methode angewandt, um die endgültige Trasse der Tram festzulegen und die bestmögliche Anordnung der Haltestellen zu bestimmen. Ein Designteam wurde beauftragt, vor Beginn der Bauarbeiten eine Analyse zu erstellen. Für diese Studie haben wir mehr als ein Jahr Zeit eingeräumt – was bei derartigen Bauvorhaben sehr selten ist. Die Designer:innen und Soziolog:innen haben über einen längeren Zeitraum hinweg intensive Befragungen und Stadtspaziergänge mit verschiedenen Zielgruppen durchgeführt. Durch diese Feldarbeit konnten sie die räumlichen Wahrnehmungen der Menschen erfassen und die Bewegungsmuster der potenziellen Nutzer:innen der Straßenbahn analysieren. Auf diese Weise wurde ermittelt, welche Streckenführung den Bedürfnissen und Erwartungen der künftigen Nutzenden am besten entspricht. Dieser partizipative Ansatz ermöglichte die Identifizierung der Anwohnenden mit der Trambahnlinie von Anfang an und über die gesamte Projektdauer hinweg: So konnten wir den Zeitplan einhalten und das Projekt in nur fünf Jahren abschließen. Die Arbeit vor Ort hat zu einer echten Verhaltensänderung der Lokalbevölkerung geführt. Letztendlich wurden weniger Haltestellen benötigt als ursprünglich im Budget vorgesehen, was zu zusätzlichen Einsparungen geführt hat.
Fotos: Auszüge aus der Projektpräsentation "Tramway 3B"
Welche Herausforderungen sehen Sie, Design in lokales und regionales Verwaltungshandeln zu integrieren?
Im öffentlichen Beschaffungswesen gibt es Hindernisse wie Budgetvorgaben, begrenzte Ressourcen und vor allem Zeitdruck. Design braucht Zeit und wird manchmal als kompliziert oder teuer wahrgenommen. Es ist ungemein wichtig, Design zum richtigen Zeitpunkt anzuwenden, also sobald der Bedarf entsteht; Design ist nicht nur kreatives Beiwerk! Es ist ein Werkzeug des Projektmanagements.
Auf der anderen Seite neigt man mitunter dazu, zu viel vom Design zu erwarten: Man hofft, dass es das öffentliche Handeln und die öffentlichen Dienstleistungen revolutionieren wird. Dabei geht es beim Design schlicht um die Nutzung und die Nutzer:innen – was letztlich jedoch hilft, sich darauf zu besinnen, dass der öffentliche Dienst vor allem ein Dienst für die Öffentlichkeit ist!
Wie kann eine Kommunalverwaltung die Bedürfnisse der Nutzer:innen erkennen?
Indem sie die Nutzer:innen systematisch in den Mittelpunkt stellt. Bei jedem Projekt beauftragen wir Designer:innen, mit maßgeschneiderten partizipativen Methoden eine Nutzungsstudie durchzuführen und sogenannte Nutzungsszenarien zu entwerfen. Die Designer:innen und Vertreter:innen der Anwohner:innen denken gemeinsam über die Nutzungen und Bedürfnisse eines Viertels, einer Straße oder eines öffentlichen Raums nach. Die in partizipativen Workshops entwickelten Ideen werden dann zu den zukünftigen Projektszenarien. Das sind sehr konkrete Entscheidungshilfen. Außerdem verbessert diese Vorgehensweise die Beziehung zwischen den Bewohner:innen und den Behörden.
Was passiert, wenn sich die Bedürfnisse und Wünsche stark unterscheiden?
Es wird nie gelingen, alle Bevölkerungsgruppen und alle Nutzungswünsche für den öffentlichen Raum unter einen Hut zu bringen. Aber der öffentliche Raum gehört allen: Man muss dort trotz Nutzungskonflikten zusammenleben können. Beispielsweise fühlten sich in einem Stadtviertel Saint-Étiennes ältere Bewohner:innen eines Seniorenheims von den Schüler:innen des Lycées [etwa: Gymnasium, Anm. d. Red.] in unmittelbarer Nachbarschaft gestört. In einem Workshop, den der zuständige Designer initiiert hatte, konnten schließlich alle ihre Bedürfnisse äußern, und man einigte sich auf ein gemeinschaftliches Projekt: ein Bereich als Treffpunkt für die Jugendlichen und sportliche Aktivitäten, sowie ein Ruhebereich für Kleinkinder, Familien und Senior:innen.
Kann Design zu einem besseren gegenseitigen Verständnis beitragen?
Auf jeden Fall. Der Designer konnte in diesem Beispiel sämtliche Spannungen abbauen, indem er ein einvernehmliches Szenario vorschlug. Der Design-Ansatz ist außerdem ein iteratives, also schrittweises Vorgehen... Sie testen beispielsweise ein theoretisch erarbeitetes Szenario, um sicherzustellen, dass sie tatsächlich funktioniert: ‚Wird diese Idee auch wirklich klappen?‘.
Wie erleben die Bürger:innen diesen Prozess?
Wir befragen die Menschen mehrfach, um ihre Bedürfnisse, ihre Vorlieben und Abneigungen zu verstehen. Dieses Vorgehen bringt persönliche Eindrücke und Nutzungsgewohnheiten eines Viertels zum Vorschein. Wenn die Designer:innen dann ein erarbeitetes Szenario in Papierform vorlegen, wird dies von den beteiligten Personen in der Regel sehr positiv aufgenommen: Es ist großartig, seine Ideen in gezeichneter Form zu sehen!
Neue Gestaltungsmöglichkeiten für den öffentlichen Raum – dank des „Plug“, made in Saint-Étienne
Für Nathalie Arnould ist der öffentliche Raum ein Reallabor – auch Stadtplaner:innen wenden die Methode des Experimentierens immer häufiger an: Beispiele dafür sind temporäre Installationen wie z.B. Pop-Up Radwege. Die Stadt Saint-Étienne hat ein Unternehmen mit der Entwicklung eines modularen Befestigungssystems für Stadtmobiliar im öffentlichen Raum beauftragt und testet den sogenannten „Plug“. Das System erlaubt das einfache Anbringen und Abbauen von Sitzgelegenheiten, Hinweistafeln oder dekorativen Elementen. So kann der öffentliche Raum ganz nach den Bedürfnissen der Nutzer:innen mit unterschiedlichem Stadtmobiliar ausgestattet oder freigeräumt werden.
Fotos: Kathrin Faltermeier | Zukunftswerk; Foto rechts unten: Cité du Design Saint-Étienne
Können wir unsere Städte durch Design umweltfreundlicher gestalten?
Seit gut zwanzig Jahren beschäftigen sich Designschaffende verstärkt mit Umweltfragen. Heute geht es ihnen um nachhaltige Nutzung und sie entwerfen effizientere, flexiblere und anpassungsfähigere Produkte, Dienstleistungen oder Einrichtungen. Außerdem werden recycelte und umweltfreundlichere Materialien verwendet. Wir müssen aber weiterhin sehr innovativ bleiben, um auf diese Herausforderung reagieren zu können.
In unseren Projekten beobachten wir, dass vor allem Begrünung zu einem verbesserten Lebensumfeld für die Stadtbewohner:innen beiträgt. Stadtgrün ist unerlässlich für die Zukunft unserer Städte, wenn wir dort auch morgen noch atmen können wollen. Für die zuständigen Fachbereiche der Verwaltung sind Grünflächen jedoch oft mit Kosten und Aufwand verbunden. Man antwortet mir: ‚Wir haben nicht genug Mittel, um weitere Grünflächen zu unterhalten'. Das ist paradox. Wirtschaftlichkeit sollte nicht über die soziale und ökologische Nachhaltigkeit gestellt werden. Die Lösung wäre, mehr kommunale Grünpfleger:innen einzustellen und die Bürger:innen einzuladen, sich für eine grünere Stadt einzubringen.
Kann Design Antworten auf die großen gesellschaftlichen Fragen in Zusammenhang mit der sozial-ökologischen Transformation liefern?
Angesichts der Covid-Pandemie, der sozioökonomischen Krisen und der Klimakatastrophe wird deutlich, dass wir neue Antworten brauchen. Wir müssen eine neue Welt erfinden und dafür alle kreativen Energien mobilisieren!
Werden diese Anforderungen in Ihren Projekten in Saint-Étienne bereits umgesetzt?
In Saint-Étienne greifen wir in Stadtentwicklungsprojekten oder Ausschreibungen für öffentliche Einrichtungen auf einen Ansatz zurück, den wir als „Design und hohe Nutzungsqualität“ bezeichnen. Er denkt Barrierefreiheit, Nachhaltigkeit und Biodiversität mit, und geht mit der Wertschätzung lokalen Wissens sowie sozialen und solidarischen Wirtschaftsformen einher. Denn letztlich sind alle diese Elemente mit der Nutzung unseres städtischen Umfelds verbunden: Kann ich mich vor der Sonne geschützt von einem Ort zum anderen bewegen? Kann ich meine Kinder sicher zur Schule bringen? Habe ich eine Alternative zum Auto, um mich fortzubewegen? Design und der Anspruch der Nutzungsqualität sollten zu einer neuen Art der Stadtplanung führen.
Zur Person
Nathalie Arnould, geboren 1965, ist Absolventin der Hochschule für Kunst und Design in Saint-Étienne. 1998 war sie an der Gründung der Biennale Internationale du Design de Saint-Étienne beteiligt. Mit einem Fokus auf die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Aspekte von Design ist sie an der Cité du Design für territoriale Projekte zuständig. Seit 2011 arbeitet Nathalie Arnould als Designmanagerin in der Kommunalverwaltung von Saint-Étienne – eine Premiere in Frankreich, wo es eine solche Funktion zuvor in keiner öffentlichen Verwaltung gab. Seitdem besteht ihre Aufgabe darin, Design in der Stadt und der Metropolregion Saint-Étienne zu etablieren, indem sie Designpraktiken entwickelt und fachbereichsübergreifend in Verwaltungsabläufe und kommunale Projekte integriert.