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Suffizienz: Besser als ihr Ruf?

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Plusieurs personnes sont assises sur des chaises, certaines pointent le pouce vers le haut. On les voit de derrière. On les voit de dos.
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Das Land Berlin rief 2022 den Berliner Bürger:innenrat ins Leben. | Foto: Manoel Eisenbacher
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Trotz zunehmendem Gegenwind zeigen Umfragen und die Empfehlungen von Bürger:innenräten eine breite Unterstützung der Bevölkerung für ambitionierte Klimapolitik, insbesondere in Bezug auf Suffizienz. Die Voraussetzung: Klimapolitik muss gerecht gemacht werden. Eine Analyse von Marion Davenas.
Date de publication / Veröffentlichungsdatum
17.02.2025
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Texte / Text

Von Marion Davenas
Übersetzt aus dem Französischen von Marion Davenas
 

Erleben wir einen Rückschritt in der Umweltpolitik? In Deutschland wie in Frankreich kursiert seit einigen Monaten die Idee eines „ökologischen Backlashs“. Klimafragen, die in beiden Ländern im Wahlkampf zunehmend an den Rand gedrängt werden, scheinen keine Priorität mehr zu haben. Der immer lauter werdende Diskurs, der Klimapolitik als ungerecht, freiheitsberaubend und somit abschreckend darstellt, scheint jenen politischen Entscheidungsträger:innen Recht zu geben, die Klimapolitik als politisch riskantes Terrain betrachten [1].

Besonders umstritten sind Suffizienzmaßnahmen. Diese zielen darauf ab, den Ressourcenverbrauch durch Verhaltensänderungen zu reduzieren. In unseren Dialogformaten und Interviews mit kommunalen Vertreter:innen wird die negative Wahrnehmung solcher Maßnahmen häufig als Grund dafür benannt, warum Suffizienz in der aktuellen Klimapolitik bislang eine untergeordnete Rolle einnimmt. Doch die Bürger:innen sind bei weitem nicht so abgeneigt, wie oft angenommen wird – sondern ihren Regierungen vielleicht sogar voraus. Das zeigen zum Beispiel die Empfehlungen von Bürger:innenräten, die nach dem Zufallsprinzip ausgelost werden.

Strukturelle Suffizienzpolitik: eine klare Erwartungshaltung der Bürger:innen

Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich setzen die Regierungen zunehmend auf Bürger:innenräte, um die Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungen zu stärken – auch im Klimabereich. Die meisten dieser Initiativen finden auf lokaler Ebene statt, beispielsweise in Grenoble, Bonn oder jüngst in Bordeaux.

Auch das Land Berlin rief 2022 den Berliner Klimabürger:innenrat ins Leben, in dem 100 zufällig ausgeloste Bürger:innen zusammenkamen. Die Auswahl erfolgte nach Kriterien wie Alter, Geschlecht, Bildungsniveau, Wohnbezirk und Migrationserfahrung, um die Vielfalt der Berliner Bevölkerung möglichst gut abzubilden. In acht Sitzungen zwischen April und Juni 2022 ließen sich die Teilnehmenden durch Wissenschaftler:innen, Verwaltungsmitarbeitende, Wirtschaftsakteure und zivilgesellschaftliche Organisationen beraten. Am Ende verabschiedeten sie 47 konkrete Vorschläge in den Bereichen Mobilität, Bauen, Energie und Wärme, Ernährung sowie Grünflächen.

Fast zwei Drittel der vorgeschlagenen Maßnahmen sind dem Bereich der Suffizienz zuzuordnen, da sie auf die Erleichterung umweltfreundlichen Verhaltens und die Einschränkung verbrauchsintensiver Praktiken abzielen. So fordern die Berliner:innen unter anderem eine Senkung der Ticketpreise und eine Verbesserung des Angebots im öffentlichen Personennahverkehr, die Einführung einer City-Maut, autofreie Tage in Kombination mit kostenlosem Nahverkehr, die Förderung und Erleichterung der Reparatur von Alltagsgegenständen sowie die Unterstützung flächensparender Wohnformen wie Wohngemeinschaften oder Mehrgenerationswohnungen. Diese strukturellen Maßnahmen zielen über Appelle an die individuelle Eigenverantwortung hinaus auf eine Veränderung der Rahmenbedingungen ab – etwa durch eine andere Stadtplanung, veränderte Infrastrukturen, aber auch durch steuerliche Anreize, Subventionen oder gesetzliche Vorgaben.

Obwohl die politische Wirksamkeit von Bürger:innenräten teilweise in Frage gestellt wird, liefern sie eine zentrale Erkenntnis: Wenn Bürger:innen über die Herausforderungen informiert sind und sich gemeinsam beraten, sprechen sie sich klar für ambitionierte Suffizienzmaßnahmen aus. Eine 2023 von Jonas Lage und weiteren Forschenden durchgeführte Studie zeigt, dass die Empfehlungen nationaler Bürger:innenräte in elf europäischen Ländern fünfmal mehr Suffizienzmaßnahmen enthalten als die jeweiligen nationalen Klimapläne. Dieser Befund deckt sich mit repräsentativen Umfragen aus Deutschland und Frankreich. So ergab eine 2023 durchgeführte Befragung von 15 000 Personen in Deutschland, Frankreich und Polen, dass die am stärksten akzeptierten Suffizienzmaßnahmen öffentliche Investitionen in den Nahverkehr sind – aber auch Regulierungen wie das Verbot von Privatjets oder von Kurzstreckenflügen. Andere Maßnahmen wie eine Kraftstoffsteuer oder das Verbot von Verbrennungsmotoren stoßen auf weniger Zustimmung.

Die Herausforderungen einer gerechten Transformation

Laut Théodore Tallent, Forscher an der Sciences Po und der Universität Cambridge, wäre es ein Fehler, „die Ablehnung bestimmter Klimamaßnahmen als generelle Ablehnung der Klimapolitik zu verstehen“. Um die Ursachen der Unzufriedenheit mit der ökologischen Transformation nachvollziehen zu können, führte er Dutzende von Interviews in ländlichen und vorstädtischen Regionen Frankreichs. In einer Analyse für den französischen sozialdemokratischen Think Tank Fondation Jean Jaurès stellte er fest, dass die geäußerte Skepsis nur sehr selten die Notwendigkeit des Klimaschutzes an sich in Frage stellt [2], sondern vielmehr die Art und Weise der Umsetzung. Und die wird oft als ungerecht wahrgenommen. Er betont, dass Klimamaßnahmen in erster Linie diejenigen Akteure in die Pflicht nehmen müssen, die den größten CO₂-Fußabdruck haben, und dass sie nicht unverhältnismäßig stark einkommensschwache Haushalte belasten dürfen, deren Emissionen weit unter denen der wohlhabenderen Bevölkerungsschichten liegen.

Suffizienzpolitik neu denken: Vorschläge des Zukunftswerks

Tallents Empfehlungen decken sich mit den Ergebnissen der Arbeit des Deutsch-Französischen Zukunftswerks mit lokalen Akteur:innen aus beiden Ländern. Ergänzend zu den mit Expert:innen, Praktiker:innen und Kommunen entwickelten politischen Handlungsempfehlungen legen wir in einer neuen Veröffentlichung sechs Thesen für eine langfristige Suffizienzpolitik vor. Besonders betont wird die Notwendigkeit, das Bild von Suffizienz als rein individueller Verzichtsleistung zu überwinden. Vielmehr muss sie zum Gegenstand kohärenter und ambitionierter struktureller Maßnahmen werden, dank derer ressourcenschonende Praktiken nicht nur ein „Weniger“, sondern vor allem ein „Mehr“ an Lebensqualität und Gerechtigkeit darstellen. Das zeigt sich beispielsweise, wenn Investitionen in nachhaltige Mobilitätsinfrastrukturen den öffentlichen Nahverkehr oder das Fahrrad zur einfacheren, sichereren und kostengünstigeren Alternative gegenüber fossil betriebenen Verkehrsmitteln machen. Oder wenn flächensparende Wohnmodelle wie Mehrgenerationswohnen nicht nur soziale Isolation verringern, sondern auch neue Wohnmöglichkeiten für Studierende und junge Berufstätige eröffnen.

Anstatt zu einem Rückschritt in den umweltpolitischen Ambitionen zu führen, sollte die Skepsis gegenüber bestimmten Maßnahmen als Ansporn dienen, noch ehrgeiziger zu werden – indem soziale Gerechtigkeit stärker in die Umweltpolitik integriert wird. Das ist nicht nur ein ökologischer Imperativ, sondern auch eine demokratische Notwendigkeit, denn ein Gefühl der Ungerechtigkeit kann den Aufstieg rechtsextremer Parteien begünstigen.

 

[1] Im April 2024 erklärte der Abgeordnete der Renaissance-Partei (Macrons Partei) aus der Haute-Savoie in einem Interview mit Le Monde: „Es wird immer schwieriger, offen über Klimapolitik zu sprechen, selbst für die Grünen. Vielleicht liegt eine gewisse Form der Selbstzensur vor, eine Angst, dass diese Themen, die oft als zu beängstigend wahrgenommen werden, von rechtspopulistischen Strömungen instrumentalisiert werden.“

[2] Die in diesem Artikel zitierte Umfrage der Hertie School bestätigt, dass sich die Mehrheit der Bürger:innen in Frankreich, Deutschland und Polen für eine ambitioniertere Klimapolitik ausspricht, als sie derzeit von ihren Regierungen verfolgt wird.

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Weiterführende Informationen

Texte / Text
  • Publikation des Zukunftswerks: „Wege zum Genug – Sechs Thesen zur Suffizienz aus dem deutsch-französischen Dialog“
  • Publikation von Energy Cities über die Lehren aus lokalen Bürger:innenversammlungen zu Klima und Energie
  • Dokumentarfilm von Yann Arthus-Bertrand „Les 150“, der den Werdegang von sechs Bürger:innen beleuchtet, die 2019-2020 am französischen Klima-Bürger:innenrat (Convention Citoyenne pour le Climat) teilgenommen haben