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Wie kommt lokales Wissen in die nationale Politik?

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Piste cyclable Blumenstraße Munich
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Foto: Dobner Angermann Film, LHM
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Im April 2023 ist es wieder soweit: Die Mitglieder des Resonanzraums nehmen ihre Arbeit auf und formulieren ihre Empfehlungen an die deutsche und französische Regierung. Welchen Weg haben wir bis hierhin mit unseren Partner-Kommunen zurückgelegt und mit welcher Methodik wird der Resonanzraum vorbereitet?
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Der Münchner Altstadtring an einem kalten Wintertag. Feldforscher Thomas Spinrath fährt trotz Minustemperaturen mit dem Rad zum nächsten Interviewtermin. Die Radverkehrspolitik der Stadt München gehört zu den Maßnahmen, deren Umsetzung er untersucht. Eigentlich ist das Fahren sehr angenehm, dank der neugebauten breiten Radwege – wenn sie nicht nach einigen hundert Metern abrupt enden und die Radfahrer:innen verloren auf der Autofahrspur zurücklassen würden. Das Stückwerk um die Altstadt herum steht sinnbildlich für die Münchner Mobilitätswende: Die Umsetzung ambitionierter Projekte ist in vollem Gange, doch durch ihre Komplexität gerät die Stadt immer wieder ins Stocken.

München ist eine von sechs Städten in Deutschland und Frankreich, mit denen das Zukunftswerk seit einigen Monaten zusammenarbeitet, um nach Hebeln der sozial-ökologischen Transformation zu suchen. Im Arbeitszyklus 2022/2023 liegt der thematische Fokus auf der nachhaltigen Stadtentwicklung. Die Partnerstädte beschäftigt dabei besonders die Flächenumverteilung als übergeordnetes Thema. Wie schafft es eine Stadt wie München mit einer wachsenden Bevölkerung und hohem Grad der Versiegelung, Flächen für grüne Infrastruktur und für sanfte Mobilität zu erschließen? Wie kann Dünkirchen den Platz des Autos zugunsten öffentlicher Verkehrsmittel begrenzen?

Auf der Suche nach Transformationsgeschichten

Feldforscher:innen wie Thomas recherchieren dafür vor Ort, führen Interviews mit Vertreter:innen der Stadt und Zivilgesellschaft, um die lokalen Chancen und Herausforderungen zu verstehen und um Transformationsgeschichten zu identifizieren. Diese Geschichten stellen exemplarisch dar, wie Städte ambitionierte Transformationsprojekte umsetzen können, aber auch, auf welche Hürden sie in der Praxis stoßen.

Die Hürden für die Münchner Mobilitätswende sind vielfältig. Bis 2035 soll der Stadtverkehr klimaneutral sein. Um dies zu erreichen, baut die Stadt wie andere auch das Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln aus und unterstützt die Elektromobilität. Außerdem hat sie sich zu einer massiven Umverteilung von Flächen zugunsten des Radverkehrs verpflichtet. Der Altstadtradlring ist einer von zwei großen Projekten, die 2019 durch ein Bürger:innenbegehren auf den Weg gebracht wurden. Das Problem: Die Umsetzung ist zu langsam. Bis 2025 sollte der Radlring umgesetzt sein. Anfang 2023 sind gerade einmal 12 Prozent davon geschafft. Besonders schnell ging es 2020 in einem anderen Vorhaben, als die Stadt mit Beginn der Corona-Pandemie innerhalb weniger Monate mehrere Pop-Up-Radfahrstreifen anbrachte. In den Jahren danach wurden die gelb markierten, vorläufigen Verkehrsversuche zur weißen dauerhaften Markierung. Bis ein Radweg jedoch baulich von der Autofahrspur abgetrennt oder sogar zum Radschnellweg ausgebaut wird, dauert es oftmals mehrere Jahre. Die deutsche Straßenverkehrsordnung und andere gesetzliche Regelungen bremsen Stadtverwaltung und Radfahrer:innen aus. Wie kann das schneller gehen?

Denkanstöße aus dem Nachbarland

Das Zukunftswerk gibt hier wichtige Impulse. Zum einen mit seinem Ansatz der transdisziplinären Forschung, bei der Forschungsansatz und -ergebnisse in regelmäßigen Treffen mit den Partner:innen in der Stadtverwaltung diskutiert und mitentschieden werden. Zum anderen, indem es Akteur:innen aus Deutschland und Frankreich miteinander vernetzt, um voneinander zu lernen. So zum Beispiel im Fall von München und Lyon. Die Großstadt im Südosten Frankreichs möchte mit ihrem Projekt Voies lyonnaises innerhalb von vier Jahren die gesamte Métropole de Lyon mit einem zwölflinigen Netz an Radwegen durchziehen. In simultan verdolmetschten Dialogen berichten Vertreter:innen der Stadt, wie sie dabei vorgehen, aber auch, welchen Herausforderungen sie sich stellen müssen. Neben München haben sich auch Siegen, Freiburg, Straßburg, Hannover und Hamburg zu einem der Dialoge dazugeschaltet. Die deutschen Städte sind beeindruckt von der Geschwindigkeit, mit der Lyon nun aufholen möchte. Sie diskutieren Möglichkeiten, den Bau von Radwegen in Deutschland ebenso zu beschleunigen.

Der Mehrwert eines solchen binationalen Dialogs liegt für die teilnehmenden Städte auf der Hand. Denn was in einem Kontext bisher noch unmöglich scheint, wird im anderen Kontext bereits praktiziert. Lyon hält sich nicht an kleinen Einzelprojekten auf, sondern erstellt auf visionäre Art ein ganzes Radwegnetz. In Frankreich herrschen andere Rahmenbedingungen. Beispielsweise finanzieren französische Arbeitgeber:innen durch die sogenannte Mobilitätsabgabe seit 2019 die öffentlichen Verkehrsmittel anteilig mit. Sie stellen damit wichtige Ressourcen für Großprojekte bereit, die deutschen Städte manchmal fehlen. Außerdem werden Vorhaben anders umgesetzt. Dieser kulturelle Perspektivwechsel wäre nicht möglich, wenn der Austausch nur auf nationalem Niveau stattfände.

Bottom-up: von der lokalen Praxis in die nationale Politik

Seit September 2022 fördert das Zukunftswerk nun den Austausch zwischen München und anderen Kommunen und die Erforschung lokaler Transformation in München und anderen Kommunenerforscht lokale Transformation. Wir wissen, welche Möglichkeiten Städte haben, bei denen die Transformation gelingt. Wir wissen, wo es hakt, wenn sie zu schleppend vorankommt. Um Erfolge in die Fläche zu bringen, müssen Land und Bund Hürden abbauen und für günstige Rahmenbedingungen sorgen. Wie das geschafft werden kann, erarbeitet das Zukunftswerk in einem kollektiven Prozess, mit der Unterstützung von lokalen und nationalen Expert:innen aus beiden Ländern, mit über 50 deutschen und französischen Teilnehmenden im sogenannten Resonanzraum: 50 Personen kommen in insgesamt drei mehrtägigen Treffen zusammen, um die lokalen Erfahrungen mit den nationalen Perspektiven zu verbinden. Sie kommen aus der Stadt-, Landes- und Bundesverwaltung, der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft. In den Arbeitstreffen werden die Ergebnisse ausgewertet und Handlungsempfehlungen an die nationale Politik beider Länder formuliert. Sie werden an den deutsch-französischen Ministerrat und die deutsch-französische parlamentarische Versammlung übergeben sowie an Entscheidungsträger:innen in Politik und Verwaltung herangetragen.

Beim Thema Mobilität liegen einige Lösungen auf der Hand, so zum Beispiel eine Änderung der veralteten und autozentrierten Straßenverkehrsordnung in Deutschland. Sie wurde bereits von vielen Städten und Verbänden gefordert und ist auf der Agenda der Koalitionsregierung. Planungsverfahren verkürzen, das Potenzial von Experimentierlösungen für eine schnellere Mobilitätswende untersuchen, … von April bis September 2023 erarbeiten die Mitglieder des Resonanzraums Plädoyers für Kursänderungen ebenso wie ganz konkrete Aktionsvorschläge – damit nicht nur der Ausbau der Radwege in München zukünftig genauso schnell vorankommt wie in Lyon, sondern bei der Umnutzung öffentlicher Flächen auch Fragen von Klimaanpassung und Gemeinwohlorientierung erfolgreich integriert werden.

Neben diesem Beispiel wird sich der Resonanzraum mit drei weiteren Herausforderungen befassen, auf die Kommunen bei der Umverteilung des öffentlichen Raums treffen: das Kopfzerbrechen um die Begrünung des städtischen Raums, das Spannungsfeld zwischen Flächenverdichtung und dem Erhalt öffentlicher Räume zugunsten des Gemeinwohls sowie dem als scheinbar widersprüchlich empfundenen „schnellen“ und „mit den Bürger:innen abgestimmten“ Handeln. Einige Einblicke in die Diskussionen werden wir natürlich mit Ihnen teilen. Es bleibt also spannend!

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Portrait Julia Plessing
Dr. Julia Plessing

Julia Plessing ist seit April 2021 wissenschaftliche Projektleitung beim Deutsch-Französischen Zukunftswerk, welches vom BMBF gefördert wird und am RIFS angesiedelt ist.

Von 2006 bis 2020 arbeitete Julia in der Entwicklungszusammenarbeit, zunächst bei der GIZ, dann als Gutachterin für Genderanalysen, Evaluation und Forschung im südlichen Afrika. Sie hat in Bologna, Brighton, Paris und Amsterdam Internationale Politikwissenschaften studiert und 2020 ihre Promotion (Thema: Challenging Elite Assumptions on Citizen Participation against Development Realities on the Ground) an der University of Johannesburg abgeschlossen.

https://www.rifs-potsdam.de/de/menschen/julia-plessing

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