Kommunale Handlungsfähigkeit für eine nachhaltige Neugestaltung des Straßenraums stärken

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Eine von Bäumen gesäumte Fahrradstraße in einem Berliner Kiez
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Foto: Mikis-Fotowelt | Für Radfahrer:innen und Fußgänger:innen umgestaltet – die Bergmannstraße in Berlin
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Um weitere Zersiedelung und Versiegelung zu stoppen, müssen Städte in Deutschland und Frankreich ihre Flächen effizienter nutzen und aktiv auf Innenentwicklung setzen. Ein überproportional großer Teil der Flächen in Städten wird heute durch die Automobilität in Anspruch genommen. Im Vergleich zum motorisierten Individualverkehr (MIV) erweist sich der Umweltverbund (ÖPNV, Fuß- und Radverkehr) mit einem weitaus niedrigeren Flächenbedarf pro beförderte Person als das flächeneffizientere Verkehrssystem.
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Die Umverteilung des Straßenraums zugunsten flächensparender und gleichzeitig klimafreundlicher Mobilitätsformen bildet vor diesem Hintergrund einen zentralen Hebel für eine zukunftsfähige Flächenentwicklung.

Als Stadtgrün, Begegnungsorte oder Radwege umgewidmet, erfüllen diese Flächen zentrale Funktionen für die Anpassung an den Klimawandel, die Stärkung der Biodiversität und Erhöhung der Lebensqualität für die Menschen vor Ort. Eine solche Neugestaltung setzt voraus, Konflikte im Straßenverkehr zu vermeiden und ein verkehrsberuhigtes Nebeneinander der unterschiedlichen Mobilitätsformen und Verkehrsteilnehmenden zu gewährleisten. Dabei darf auch der suburbane Raum nicht außer Acht gelassen werden: Hier gilt es, den Zugang zum öffentlichen Verkehrsnetz zu verbessern – insbesondere über sogenannte multimodale Verkehrsknotenpunkte, welche unterschiedliche Verkehrsmittel wie Carsharing, Fahrrad, Bus und Bahn miteinander verknüpfen. 

Aktuell schränkt der gesetzliche und regulatorische Kontext die Handlungsmöglichkeiten der französischen und deutschen Kommunen jedoch ein. Damit Kommunen eine nachhaltige Umverteilung des Straßenraums ambitioniert und schneller umsetzen können, empfiehlt das Deutsch-Französische Zukunftswerk, den rechtlich-administrativen Gestaltungsspielraum auf lokaler Ebene maßgeblich auszuweiten.

Accordéons
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Menschen- statt autogerecht: Nachhaltigkeitsziele im Straßenverkehrsrecht verankern
Description / beschreibung

Inspiriert vom französischen Code de la rue (deutsch: Straßenverkehrsordnung) und dem französischen Loi d’orientation des mobilités von 2019 (deutsch: Mobilitätsorientierungsgesetz), sollte der Bund die rechtlichen Hemmnisse für die Flächenumverteilung zugunsten des Umweltverbunds auf kommunaler Ebene abbauen.

Engagierte Kommunen wie Marburg (s. Erfahrungen und Impulse) und München gehen in Deutschland bei der Umwidmung des Straßenraums voran. Dies gelingt jedoch nur durch den Rückgriff auf Experimentierklauseln oder Verkehrsversuche, die derzeit noch mit großem Aufwand, Kosten sowie Unsicherheiten für die Kommunen verbunden sind. In Frankreich hingegen erlauben Gesetzesänderungen im Code de la Rue Kommunen seit 2008 grundsätzlich größere Gestaltungsfreiheit in der Verkehrspolitik.

Die Verankerung des Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschutzes sollte im Straßenverkehrsgesetz (StVG) und Straßenverkehrsordnung (StVO) konsequenter umgesetzt werden.

Der „Vorrang der Leichtigkeit des Verkehrs“ sollte verändert werden in den „Vorrang der Leichtigkeit für den Umweltverbund“. Insbesondere sollte §45 Absatz 9 der StVO gestrichen werden, um den Handlungsspielraum der Kommune für eine nachhaltige Neugestaltung des Straßenraums jenseits der Gefahrenlageerfordernis zu erweitern.

Titel
Regelumkehr: Tempo 30 als innerörtliche Regelgeschwindigkeit festsetzen
Description / beschreibung

Die von uns empfohlene Neuausrichtung des Straßenverkehrsrechts (StVG und StVO) muss genutzt werden, um bestehende Hemmnisse bei der Umsetzung nachhaltiger Mobilität vor Ort aufzulösen. Ein zentraler Baustein für die bessere und sichere Nutzbarkeit von Verkehrsflächen für aktive Mobilität (Fuß- und Radverkehr) bildet dabei die Umkehr der Regelgeschwindigkeiten innerorts. Der Bund sollte Tempo 30 als innerörtliche Regelgeschwindigkeit festlegen. Dabei sollte den Kommunen der Spielraum erhalten bleiben, nach eigenem Ermessen für bestimmte Straßen oder Streckenabschnitte Tempo 50 als Ausnahme anzuordnen. In Frankreich haben seit den Gesetzesänderungen des Code de la rue zwar bereits zahlreiche Städte flächendeckend Tempo 30 eingeführt, es muss aber dafür gesorgt werden, dass diese Regelung in der Praxis besser durchgesetzt wird.

Titel
Kommunen die Kompetenzübernahme für die Nahmobilität ermöglichen
Description / beschreibung

Seit der Einführung des Mobilitätsorientierungsgesetzes 2019 haben Kommunen in Frankreich – dem Subsidiaritätsprinzip folgend – die Möglichkeit, die Trägerschaft für Mobilität zu übernehmen oder diese an die Regionen abzugeben. In dünn besiedelten Gebieten haben viele kleine französische Gemeinden und Gemeindeverbände aufgrund ihrer begrenzten finanziellen Möglichkeiten auf die ihnen gebotene Möglichkeit verzichtet und die Rolle der Mobilitätsbehörde (Autorité Organisatrice de la Mobilité, kurz AOM) an die regionale Ebene abgegeben. Dies stellt ein Hindernis für die Entwicklung neuer, auf die lokalen Bedürfnisse zugeschnittener Mobilitätsangebote wie Fahrgemeinschaften, On-demand-Verkehre oder Fahrradverleihsysteme dar. Aus diesem Grund sollte die französische Regierung den Handlungsspielraum der Regionen erweitern, indem diese als AOM berechtigt werden, die Mobilitätsabgabe (versement mobilité) zu erheben. Diese kann bisher durch Kommunen von ortsansässigen Unternehmen mit mindestens elf Beschäftigten zweckgebunden zur Finanzierung des ÖPNV erhoben werden. Durch eine Ausweitung auf die Region könnte sowohl das Mobilitätsangebot stärker auf die Voraussetzungen der jeweiligen Arbeitsmarktregion und der damit verbundenen Mobilitätsbedarfe zugeschnitten werden, als auch eine effizientere Intermodalität gewährleistet werden. Darüber hinaus sollte die Regierung den Intercommunalités (Gemeindeverbände) erneut die Möglichkeit eröffnen, die Mobilitätskompetenz zu übernehmen, und damit die Verantwortungsverteilung zwischen Region und Kommunen dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend neu zu bewerten.

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Erfahrungen und Impulse

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Radstreifen außerorts
Verkehrsversuche: Erfolg auf Umwegen
Description / Beschreibung

In Marburg wurde außerorts von einer zweispurigen Autostraße eine Fahrspur als Radfahrstreifen ausgewiesen. Da solche Fahrstreifen außerorts laut StVO bisher nicht zulässig sind, konnte diese Maßnahme nur temporär und mit viel Aufwand durch einen Verkehrsversuch umgesetzt werden. Unklar bleibt, ob dieser verstetigt werden kann.

Im Marbacher Weg in Marburg wurde Tempo 30 eingeführt, da der Straßenquerschnitt nicht ausreichend Fläche für einen Radfahrstreifen bietet. Durch das Überholverbot kann der Radverkehr nun sicher die gesamte Spur nutzen. Doch auch in diesem Fall konnte die Maßnahme nur über einen Verkehrsversuch umgesetzt werden.

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Radfahrer*innen auf einem zweispurigen Fahrradweg
Verkehrsversuch verstetigt
Description / Beschreibung

Die im Mai 2021 auf der B37 zwischen Heidelberg und Neckargemünd als Verkehrsversuch außerorts eingerichtete Radspur war ein Erfolg und wird nun verstetigt. Deutschlandweit ist das ein noch einmaliges Vorgehen und schafft damit einen Präzedenzfall. Die Zusage zum Verbleib der Radspur kam im November 2023 vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr. Denn der Versuch hatte gezeigt, dass der Kfz-Verkehr durch den Rückbau der B37 von vier auf drei Fahrstreifen zugunsten einen separaten Radstreifens nicht beeinträchtigt wird. Zudem legte die rege Nutzung der Radspur den hohen Bedarf für die Radwegverbindung offen. Um die noch provisorische Einrichtung so lange aufrechterhalten zu können, bis die endgültige Lösung umgesetzt wurde, bedarf es nun einer Abstimmung zwischen dem Regierungspräsidium Karlsruhe und der Stadt Heidelberg. Mehr Informationen hier und hier.

Als erstes Bundesland ermöglicht im Übrigen Baden-Württemberg die Einrichtung von 1,5 Meter breiten Fahrradschutzstreifen auch außerorts - an Landstraßen mit geringem Verkehrsaufkommen. Ein entsprechender Erlass des Landesverkehrsministeriums wurde im Januar 2023 an die baden-württembergischen Straßenverkehrsbehörden übermittelt. Mehr Informationen hier

 
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Politische Handlungsempfehlung 1 − Kommunale Handlungsfähigkeit für eine nachhaltige Neugestaltung des Straßenraums stärken
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