Für kreative und nachhaltige Städte: Lasst uns experimentieren!
Von Arthur Frantz
Übersetzung aus dem Französischen von Annette Kulzer
Ein Hebel für den Wunsch nach Veränderung
Man stelle sich folgendes Szenario vor: Die schönste Prachtstraße der Welt, die Avenue de Champs-Élysées in Paris, die normalerweise von 100.000 Autos täglich befahren wird, ist ganz und gar der sanften Mobilität gewidmet... Der autofreie Tag Paris Respire, zu Deutsch „Paris atmet auf“, wurde 2015 erstmals ins Leben gerufen. Die daraus gewonnenen Erfahrungen ermöglichten der Stadtverwaltung, die Champs-Elysées später an einem Sonntag pro Monat in eine Fußgängerzone zu verwandeln. Das Ergebnis begeistert: Das Dröhnen der Motoren weicht festlicher Musik, zu der die Passant:innen auf den großen Kreuzungen tanzen; glänzende Motorräder machen Platz für Fahrradkorsos; Ampeln blinken in poetischer Gleichgültigkeit...
Die Ziele, die Auswirkungen des Klimawandels zu bekämpfen sowie Lebensqualität und Gesundheit zu schützen, erfordern eine ehrgeizige Umgestaltung des öffentlichen Raums: die Stadt soll begrünt und offene Räume für Begegnungen geschaffen werden. Dabei kann es jedoch zu Nutzungskonflikten kommen – insbesondere im Bereich der Mobilität. in den deutsch-französischen Resonanzräumen entstanden hierzu rasch Ideen für mögliche Experimentierlösungen.
Sind Experimente ein Schlüssel zur Förderung nachhaltiger Veränderungen in der Stadtentwicklung? Die vielfältigen Praktiken – von Shared-Mobility-Fahrspuren über die Aneignung von Freiflächen bis hin zur temporären Umgestaltung des öffentlichen Raums mit Stadtmöbeln – stellen die Kommunen vor zahlreiche Herausforderungen: Sie müssen die Bürger:innenbeteiligung sicherstellen, erfolgreiche, temporär umgesetzte Projekte dauerhaft einrichten oder auch das Risiko zu scheitern in Kauf nehmen...
Nichtsdestotrotz machen diese Aktionen die notwendigen nachhaltigen Veränderungen für die Bevölkerung erst greifbar und führen dazu, dass die Maßnahmen auch akzeptiert, ja sogar gewollt werden. Dass dementsprechend Experimente den urbanen Wandel vorantreiben, stellt einen echten Paradigmenwechsel dar, der durch die Handlungsempfehlungen des Zukunftswerks gefordert wird.
Schwerfällige Verfahren ohne sicheren Ausgang
Es gibt bereits Instrumente, die es den Kommunen ermöglichen, Experimentierlösungen umzusetzen – doch diese zu implementieren, stellt sie vor Hindernisse. In Deutschland gibt es beispielsweise die Möglichkeit, mit sogenannten Verkehrsversuchen Fahrbahnen testweise Fußgänger:innen zuzuweisen. Dieses Tool wurde in der Fußgängerzone der Sendlinger Straße in München eingesetzt. Trotz dieses gelungenen Beispiels für eine gemeinsame Umnutzung berichten deutsche Gebietskörperschaften von einem schwerfälligen Verwaltungsverfahren, das zahlreiche Bewertungen erfordert und eher dazu neigt, auf Sicherheitsfragen als auf klimatische Herausforderungen einzugehen (vgl. die derzeitige Formulierung des Gesetzestextes in §45 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 StVO).
Allgemein betonten die Teilnehmenden des Resonanzräume, dass es an internen Ressourcen fehle, um solche Maßnahmen zu ergreifen und sie reibungslos umzusetzen. „Jeder zurückgewonnene Meter Radweg erfordert Überzeugungsarbeit bei unnachgiebigen Anwohner:innen und den Geschäftsleuten, die sehr, sehr an ihren Parkplätzen hängen“, berichtet Guillaume Julien Neveu, Leiter des französischen Projekts Voies Lyonnaises, von seinen Erfahrungen. Ziel des Projektes ist es, innerhalb von vier Jahren ein umfassendes Netz von zwölf Radwegen zu schaffen, das die gesamte Metropolregion Lyon durchquert. Sein Beispiel verdeutlicht, wie heikel die Reduzierung des Autoverkehrs nach wie vor ist. Es ist wichtig, die Akteur:innen zu sensibilisieren, sie in den Praktiken der Bürger:innenbeteiligung zu schulen und sie bei diesen manchmal wagemutigen Schritten zu begleiten.
Einige innovative Ansätze unterstützen die Kommunen auf ihrem Weg: Die in Baden-Württemberg eingerichtete zentrale Anlaufstelle Ortsmitten stellt Gebietskörperschaften, die ihren öffentlichen Raum umgestalten möchten, mobile Parklets leihweise zur Verfügung. Die Stadt Bad Wimpfen beispielsweise hat dieses Angebot des Materialverleihs und die persönliche Betreuung, die insbesondere zum Thema Bürger:innenbeteiligungsprozess stattfand, bereits genutzt.
Experimentierlösungen fördern, um den urbanen Wandel zu steuern
Ausgehend von diesen inspirierenden Beispielen und zahlreichen Erfahrungsberichten haben die Teilnehmenden der Resonanzräume gemeinsam politische Handlungsempfehlungen erarbeitet, die auf eine stärkere Implementierung von Experimentierlösungen abzielen.
Das Deutsch-Französische Zukunftswerk empfiehlt, die bestehenden gesetzlichen Regelungen zu vereinfachen und Wissen unter den Akteur:innen zu teilen, um die Kommunen bei der Umsetzung von Ideen zu unterstützen. Hierzu wünschen sich die Vertretungen der Partnerkommunen ein Handbuch, das sukzessive weiterentwickelt wird und alle gültigen Regelungen zentral zusammenfasst. Idealerweise sollten sich die Beauftragten unterstützend über eine Plattform vernetzen und dort Best-Practice-Beispiele vorstellen. Außerdem schlägt das Zukunftswerk konkrete Änderungen der bestehenden Vorschriften vor, insbesondere der deutschen Straßenverkehrsordnung, die in den Handlungsempfehlungen näher beschrieben werden.
Um die Eigeninitiative in den Verwaltungen zu fördern, könnte in Fortbildungsprogrammen für Akteur:innen ein Schwerpunkt auf diese Form der Governance gelegt werden. Das Ziel ist es, die Verwaltungen Schritt für Schritt dafür zu sensibilisieren, Rückmeldungen aus der Praxis in ihre Arbeit einzubeziehen und gegebenenfalls auch offen dafür zu sein, die städtischen Projekte so anzupassen, dass sie den beobachteten Nutzungsweisen gerecht werden.
Da sich eine Stadt nie ohne ihre Bewohner:innen verändern kann, empfiehlt das Zukunftswerk den Regierungen beider Länder schlussendlich, lokale Veranstaltungen zu fördern und die Initiativen der Kommunen hervorzuheben – gemäß dem Vorbild des autofreien Tages Paris Respire. Der Schlüssel zum Erfolg von Experimentierlösungen liegt in der Mobilisierung und Begeisterungsfähigkeit der Bevölkerung. Nachdem die Pariser:innen vor dem Triumphbogen als Wahrzeichen getanzt haben, spielen die Berliner:innen vielleicht bald Fußball auf den Straßen vor dem Brandenburger Tor? Das wäre ein monumentaler Treffer!