Experimentierlösungen vorantreiben
Experimentierlösungen wie die gemeinwohlorientierte Nutzung des Grünspitz in München oder temporäre Vorfahrtsspuren für Fahrgemeinschaften und Busse in Lyon machen eine nachhaltige Umgestaltung greifbar und tragen auf diese Weise zu einer konstruktiven Bewältigung von Nutzungskonflikten bei. Dennoch bleiben Experimentierlösungen meist auf einzelne Pilotvorhaben und zeitlich beschränkt. Denn sie erfordern neben einem guten Verständnis des komplexen rechtlichen Rahmens auch einen grundlegenden Kulturwandel in Politik und Verwaltung.
Experimentierlösungen wie Pop-Up-Radfahrstreifen, temporäre Begrünung von Plätzen oder verstellbares Stadtmobiliar erlauben Nutzungen zu testen, die Meinung der Bevölkerung zu erheben und darauf aufbauend die geplante dauerhafte Umsetzung anzupassen. Für die praktische und juristische Umsetzung für Experimentierlösungen zeigt sich eine Vielfalt an Möglichkeiten.
In Deutschland bedienen sich Kommunen in einigen Fällen Experimentierklauseln, wie beispielsweise der Verkehrsversuch in der Straßenverkehrsordnung, um von bestehenden Rechtsvorschriften abweichen zu können. In anderen Fällen bieten temporäre Verkehrsanordnungen oder die Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis, zum Beispiel für zivilgesellschaftliche Projekte, die Grundlage für ein Experiment. Viele dieser rechtlichen Möglichkeiten bleiben jedoch aufwendig und kompliziert in der Anwendung.
In Frankreich sind Kommunen im Kontext der Dezentralisierung im Prinzip dazu ermutigt, Experimentierlösungen anzuwenden. Jedoch sind die bestehenden rechtlichen Instrumente zum Teil wenig bekannt. Es gibt daher Hemmnisse und Unsicherheiten bei den Kommunen diese anzuwenden.
Das Deutsch-Französische Zukunftswerk empfiehlt den Regierungen Deutschlands und Frankreichs, Experimentierlösungen rechtlich stärker zu verankern und Anreize für Kommunen zu schaffen, diese zu nutzen mit dem Ziel, gute Lösungen zu verstetigen.
Schlüsselbegriff: Experimentierlösungen
Experimentierlösungen im Sinne dieser Empfehlung umfassen innovative Umnutzungen öffentlicher Räume, die provisorisch oder zeitlich begrenzt vorgenommen werden und teilweise rechtliche Ausnahmeregelungen nutzen. Bei einem Teil der Experimentierlösungen handelt es sich um Reallabore (im Sinne von regulatory sandboxes), welche darauf abzielen, „Innovationen für eine befristete Zeit unter möglichst realen Bedingungen und unter behördlicher Begleitung zu erproben, die im allgemeinen Rechtsrahmen an Grenzen oder auf offene Fragen stoßen“[1]. Experimentierlösungen gehen über das Verständnis von Reallaboren hinaus und umfassen auch jene experimentellen Umgestaltungen von öffentlichen Räumen, die unter dem bestehenden Rechtsrahmen und ohne Genehmigung einer weiteren Behörde umsetzbar sind.
[1] Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (2023): Reallabore – Testräume für Innovation und Regulierung, verfügbar unter: https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Dossier/reallabore-testraeume-fuer-innovation-und-regulierung.html (zuletzt abgerufen am 21.05.2024).
Um die Umsetzung von Experimenten in der Breite zu erleichtern, sollte der bisher auf spezifische Fälle beschränkte und in der Anwendung aufwendige Rechtsrahmen in Deutschland vereinfacht und durch eine Ergänzung um die Ziele der ökologischen Transformation gestärkt werden.
Die Straßenverkehrsordnung (StVO) muss auf Basis einer stärker auf die Zielsetzung des Klimaschutzgesetzes ausgerichteten Neufassung des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) so angepasst werden, dass der Experimentiergedanke für die nachhaltige Umnutzung von Verkehrsflächen gestärkt wird. Hierfür sollte die Bundesregierung
- einerseits die Zielsetzung des Klimaschutzgesetzes in der Aufzählungsnummer zu Verkehrsversuchen (§45 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 StVO) ergänzen. Neben der Gefahrenabwehr sollte hierfür die Erprobung von Maßnahmen des Umwelt- und Gesundheitsschutzes als Begründung von Verkehrsversuchen aufgenommen werden.
- andererseits wie vom Deutschen Bundestag am 20. Oktober 2023 aufgefordert, eine umfassende Innovationsklausel prüfen und wenn möglich einführen, die grundsätzlich die Neuordnung des Straßenraumes umfasst und damit die Erprobung von bisher nicht in der StVO vorgesehenen Verkehrsanordnungen möglich macht.
Die Regierungsbehörden in Deutschland und Frankreich sollten eine offene Plattform einrichten, die kommunalen Verwaltungsmitarbeitenden und Ratsmitgliedern die Ermessenspielräume für Experimentierlösungen in der Transformation öffentlicher Räume aufzeigt.
Die Plattform sollte:
- ein leicht aktualisierbares Handbuch beinhalten, welches die rechtlichen Experimentiermöglichkeiten im bestehenden Planungs- und Rechtsrahmen umfassend aufzeigt. Dabei sollte auch die Anwendung von Experimentier- und Öffnungsklauseln in grenzüberschreitenden Angelegenheiten beachtet werden.
- den Wissenstransfer zwischen Kommunen stärken, indem sie erfolgreich umgesetzte Praxisbeispiele vorstellt und die Vernetzung von Kommunen untereinander ermöglicht.
In Deutschland könnte die nationale Plattform an den von der Bundesregierung geplanten One-Stop-Shop „Reallabore“ angedockt werden. In Frankreich könnte die Plattform bei der Agence Nationale de la Cohésion des Territoires angesiedelt werden, um das bestehende Coaching für Kommunen zu ergänzen.
Das Bundesland Nordrhein-Westfalen hat eine digitale Plattform eingerichtet, die lokale Beispiele von Reallaboren sowie bestehende rechtliche Experimentierklauseln vorstellt: https://www.digi-sandbox.nrw/
Das Zukunftswerk empfiehlt den Regierungsbehörden in Frankreich und Deutschland, die nationalen Plattformen auf regionaler Ebene um Anlauf- und Beratungsstellen zu ergänzen, welche die Kommunen bei der praktischen Umsetzung von Experimentierlösungen und Partizipationsmöglichkeiten unterstützen. Die Begleitung kann das Erstellen von Visualisierungen, logistische Unterstützung in der temporären Umgestaltung von öffentlichen Räumen oder die Durchführung von Partizipationsformaten beinhalten.
In Frankreich könnten die Beratungsstellen beispielsweise bei den Agences d’urbanisme oder auf Ebene der Départements bei den Conseils d’Architecture, d’Urbanisme et de l’Environnement angesiedelt werden.
Das Verkehrsministerium in Baden-Württemberg hat eine Servicestelle eingerichtet, die den Kommunen als erste Ansprechpartnerin bei der experimentellen Umgestaltung ihrer Ortsmitten zur Verfügung steht, unter anderem als Koordinatorin für kostenlos leihbares Stadtmobiliars des Landes.
Die Aus- und Weiterbildung von kommunalen Verwaltungsmitarbeitenden, von Stadtplaner:innen und Stadträt:innen sollte in beiden Ländern den Fokus auf die Spielräume und Potenziale für Experimentierlösungen stärken. Denn um die Weichen für langfristige Transformationen zu stellen und dauerhaft bessere Lösungen zu finden, benötigt es eine lernende, fehlertolerante Verwaltung mit dem Willen zum Experimentieren. Ziel muss eine Verwaltungskultur sein, in der Experimente in der Umgestaltung öffentlicher Räume Teil der alltäglichen Routine werden. In Frankreich könnte dieser Kulturwandel beschleunigt werden durch spezifische Module im Aus- und Fortbildungsangebot am Centre National de la Fonction Publique Territoriale.
Im Public Planning Lab der TU München werden künftige Führungskräfte der kommunalen und staatlichen Bau- und Planungsverwaltungen ausgebildet. Ein Fokus der Weiterbildung liegt auf der Stärkung der Experimentierkultur.
In beiden Ländern sollten Aktionstage gestärkt werden, an denen der öffentliche Raum experimentell von den Kommunen und der Bevölkerung umgestaltet werden kann. Durch den festlichen Rahmen rund um die experimentelle Umnutzung werden die Umgestaltungspotenziale von Stadträumen erlebbar. Zugleich ermöglicht das Narrativ von Aktionstagen, experimentelle Lösungen zu etablieren und das bürgerschaftliche Engagement zu steigern. Die nationale Ebene kann Kommunen in diesem Vorhaben unterstützen, indem Aktionstage landesweit stärker beworben und Mittel für die Umsetzung bereitgestellt werden. Zum Beispiel könnte ein Preis ausgelobt werden für innovative Experimente, deren Umsetzung finanziell gefördert wird.
Deutsche Erfahrungen und Initiativen
Grüne Oase, sozialer und kultureller Treffpunkt – mitten im dicht bebauten Münchner Stadtteil Obergiesing befindet sich der Grünspitz. Zwischen großen, alten Kastanienbäumen bietet der Platz eine einladende bunte Bestuhlung, Hochbeete und einen kleinen Kiosk. „Der Grünspitz ist ein Ort für alle. Auch für Menschen, die sonst keinen Aufenthaltsort in der Stadt finden.“, erzählt Christina Pirner, die für den Verein Green City e.V. arbeitet. Der Verein hat die Fläche von der Stadt gepachtet und koordiniert die Gartenprojekte, Kulturveranstaltungen und die Reinhaltung des Platzes. Die experimentelle Zwischennutzung wurde durch die Partnerschaft von Stadtverwaltung und dem Verein möglich. Der gemeinwohlorientierte Freiraum soll nun dauerhaft gesichert werden.
Foto: Kulturverstrickungen e.V.
Die Gemeinde Bad Wimpfen erweiterte 2023 ihre Fußgängerzone temporär durch mobile und begrünte Parklets. Übliche Planungshindernisse, wie zum Beispiel der Denkmalschutz, mussten aufgrund der zeitlich begrenzten Aufstellung der Pop-Up-Möbel weniger berücksichtigt werden. So konnte die Umgestaltung in nur zwei Monaten realisiert werden.
Die Servicestelle Ortsmitten des Landes Baden-Württemberg begleitete das Projekt. Sie verleiht an Kommunen nicht nur das Stadtmobiliar, sondern berät sie auch bei der Planung und Umsetzung solcher Experimentierlösungen, zum Beispiel durch die Vermittlung kostenloser Landesangebote zur Bestandsaufnahme (Bewertungskompass, Maßnahmen-Steckbriefe) und Visualisierungen, die auch bei der Öffentlichkeitsbeteiligung genutzt werden können.
Foto: Yannik Wegner
Die Stadt München testete 2016 über den Zeitraum eines Jahres eine autofreie Umgestaltung der Sendlinger Straße dank Experimentierklausel in der Straßenverkehrsordnung (§ 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6). Mit Hilfe von Beteiligungsformaten und einer begleitenden Evaluierung konnten Bedenken der Bevölkerung berücksichtigt und die Wirkung der Umgestaltung gemessen werden. Aufgrund der positiven Ergebnisse beschloss der Stadtrat, die Innenstadtstraße dauerhaft in eine Fußgängerzone umzubauen. Das Beispiel illustriert, wie Experimente die Umnutzung von Straßenraum voranbringen und dabei skeptische Bürger:innen einbinden können. Die Bundesregierung könnte vergleichbare Verkehrsversuche künftig vereinfachen, indem sie den gesetzlich vorgeschriebenen Begründungsaufwand reduziert.
Foto: Jörg Koopmann
Französische Erfahrungen und Initiativen
Nachhaltige urbane Transformationen mit festlichen Anlässen greifbar machen: Während des Aktionstages Paris Respire („Paris atmet“) werden zahlreiche Pariser Hauptstraßen vollständig der nicht motorisierten Mobilität gewidmet. Neben Spaziergänger:innen können sich auch kulturelle und sportliche Initiativen den Raum aneignen, zum Beispiel durch gemeinsame Wanderungen oder Aufführungen. So wird die Attraktivität einer autofreien Stadt aufgezeigt und der Weg für langfristige Maßnahmen der Verkehrsreduktion geebnet. Um einen Tag lang die Nutzung des öffentlichen Raums umzukrempeln, erfordert die Veranstaltung große Anstrengungen. Ihre regelmäßige Durchführung trägt dazu bei, ein gesellschaftliches Narrativ für den ökologischen Stadtumbau zu entwickeln.
Foto: Guillaume Bontemps/Ville de Paris
Auf Grundlage des Artikels R.119-10 des Code de la Route (deutsch: Straßenverkehrsordnung StVO) können in Frankreich auch Versuche mit Signalanlagen der Verkehrsinfrastruktur durchgeführt werden. Lyon testet auf diese Weise seit 2020 die Einrichtung von Fahrgemeinschaftsspuren auf den Autobahnen M6/M7, indem diese in Stoßzeiten über Anzeigetafeln ausgewiesen werden. Die Spuren sind für den Transport von Fahrzeugen mit zwei oder mehr Passagieren vorgesehen und sollen so Fahrgemeinschaften und den ÖPNV fördern. Der (Begründungs-)aufwand ist höher als bei anderen Formen von Verkehrsexperimenten und sieht unter anderem Begleitforschung vor. Gleichzeitig ermöglicht dieser Prozess der Gemeinde, differenziert zu bilanzieren und darauf bezogene Anpassungsmaßnahmen zu entwickeln.
Foto: Muriel Chaulet/Ville de Lyon