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Temporäre Verkehrsversuche, Straßenverkehrsordnung und Code de la rue: Wie können Kommunen die Mobilitätswende beschleunigen?

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Un cycliste et une voiture sur une route à deux voies.
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Foto: Dominik Werner
Accroche / Aufhänger
Ein PKW nimmt im Verkehr viermal so viel Platz ein wie ein Fahrrad. Wie gelingt es, Verkehrsflächen umzuverteilen und die Radverkehrsinfrastruktur auszubauen? Das Beispiel Marburg zeigt, vor welchen rechtlichen Herausforderungen Kommunen bei der Mobilitätswende stehen. Der Blick nach Frankreich bietet erste Lösungsansätze.
Date de publication / Veröffentlichungsdatum
21.11.2023
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Mit dem Mobilitätskonzept MoVe35 will Marburg den Anteil des motorisierten Individualverkehrs (MIV) bis 2035 halbieren und den Anteil des Umweltverbundes (Fuß-, Fahrrad- und ÖPN-Verkehr) um etwa 30 Prozent erhöhen. Damit das gelingt, will die Stadt unter anderem Anreize schaffen, vom Auto auf das Fahrrad umzusteigen.

Die Strecke Marbacher Weg / Emil-von-Behring-Straße gehört zu jenen Abschnitten, die die Stadt Marburg sicherer und attraktiver für Radfahrer:innen machen möchte. Diese schmale, stark befahrene Straßenverbindung schlängelt sich vom Stadtzentrum Marburg hoch auf die Lahnberge zu einem der größten Arbeitgeber der Stadt, dem Pharmastandort Behringwerke. Sie soll nun an das städtische Radverkehrsnetz angeschlossen werden. Aus Platzmangel und wegen der topographischen Lage kann die Stadt hier aber keinen gesonderten und richtlinienkonformen Radweg bauen. Radler:innen müssen auf der verkehrsreichen Straße fahren, ein gefährliches Unterfangen!

Um die Straße für Radfahrer:innen attraktiver zu machen, wäre ein Tempolimit eine Alternative. Aber hier sind Marburg die Hände gebunden: Denn nach derzeit geltendem Straßenverkehrsgesetz und aktueller Straßenverkehrsordnung darf die Stadt auf dieser Straße, die in die Zuständigkeit des Landes Hessen fällt, nicht einfach Tempo 30 anordnen. Eine solche Regelung wäre nur möglich, wenn dadurch einer nachweislichen Gefahrenlage begegnet würde, etwa wenn sich hier ein Unfallschwerpunkt befände. Oder wenn eine starke Lärmbelastung über 70/60 dB(A) – vergleichbar mit einem Staubsauger – vorläge. Das Sicherheitsbedürfnis von Radfahrenden oder der dringende Wunsch der städtischen Radverkehrsplaner:innen reichen als Begründung nicht aus.

Verkehrsversuche als Lösung mit direktem Effekt

Die Anordnung eines Verkehrsversuchs bietet jedoch die Chance, zeitnah eine Geschwindigkeitsreduktion für den Autoverkehr herbeizuführen. In Abstimmung mit der für die Durchgangsstraße zuständigen Landesbehörde beschloss die Stadt Marburg ein Tempolimit von 30km/h als Verkehrsversuch. Aus Sicht der Stadtverwaltung verbessert sich die Situation der Radfahrenden durch dieses Tempo-30-Limit, kombiniert mit einem verhängten Überholverbot. Denn wenn Tempo 30 vorgeschrieben und Überholen aufgrund der Straßenbreite oder anderer Beschränkungen nicht möglich ist, darf der Radverkehr nach geltender Straßenverkehrsordnung die gesamte Fahrspurenbreite nutzen. Es muss kein eigener Radweg ausgewiesen werden.

Einen weiteren Vorteil des Tempolimits und des Überholverbots sieht Marburg in der Reduktion von Emissionen, was den Klimaschutzzielen der Stadt Marburg entgegenkommt. Das Tempo-30-Limit entspricht auch den Zielen der „Tempo-30-Städteinitiative“ (S. 2, Juli 2021), die der Marburger Oberbürgermeister Dr. Spies unterzeichnet hat: „Straßen werden wesentlich sicherer, gerade für die besonders Gefährdeten, die mit dem Fahrrad unterwegs“ sind.

Marburg ist hier keineswegs eine Ausnahme. Auch andere deutsche Kommunen führen Verkehrsversuche durch, um Maßnahmen zur Mobilitätswende auf den Weg zu bringen. So sah auch München in einem Verkehrsversuch die Chance, schnell einen Pop-Up-Radweg in der Elisenstraße nahe dem Hauptbahnhof einzurichten.

Grenzen durch zeitliche Befristung

Aber Verkehrsversuche sind in Deutschland zeitlich befristet. So ist der Marburger Verkehrsversuch, der seit Sommer 2021 läuft, auf drei Jahre begrenzt. Eine Verstetigung ist ungewiss. In München konnte der Pop-up-Radweg auf der Elisenstraße zwar in eine Dauerlösung überführt werden, jedoch mit erheblichem Personalaufwand. Denn zum einen muss die Münchener Verwaltung dafür sorgen, dass ihr Verkehrsversuch nach §45 der StVO wissenschaftlich evaluiert wird, und eine öffentliche Beteiligung zum Verkehrsversuch organisieren. Zum anderen erfordert die Überführung einer temporären Lösung in eine Dauerlösung eine erweiterte Planung. In München mussten beispielsweise gelbe Markierungen, die für den Verkehrsversuch auf der Straße aufgebracht worden waren, durch weiße Farbe ersetzt werden. Inzwischen ist beschlossen, einen baulich abgetrennten Radweg auszuweisen, was weiteren Planungsaufwand und die Bindung personeller Ressourcen bedeuten würde.

Französisches Vorbild: Mehr kommunale Handlungsfreiheit im Verkehrsbereich

Wie kann die deutsche Regierung Kommunen wie Marburg und München unterstützen, damit die Mobilitäts-Transformation gelingt? Das Beispiel Frankreich könnte weiterhelfen. Hier haben Kommunen mehr Gestaltungsfreiheit in der Verkehrspolitik. Seit Mitte der 2000er-Jahre wird mit der Initiative Code de la rue das französische Straßenverkehrsrecht so weiterentwickelt, dass es leichter für die Städte ist, eine sichere, entspannte und nachhaltige Mobilität umzusetzen. Kommunen können zum Beispiel selbst flächendeckend Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit einführen. Inspiriert vom französischen Code de la rue und dem französischen Mobilitätsorientierungsgesetz sollte der Bund die rechtlichen Hemmnisse für die Flächenumverteilung zugunsten einer sicheren aktiven Mobilität auf kommunaler Ebene abbauen. Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschutz sollten – wie im Koalitionsvertrag vorgesehen – im Straßenverkehrsgesetz (StVG) als Ziele verankert und denen der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs gleichgesetzt werden. U.a. sollten Kommunen eigenständig Tempo 30 als Höchstgeschwindigkeit dort anordnen dürfen, wo sie es für sinnvoll erachten, und zwar zeitlich unbefristet.