Type d'actualité / Nachricht typ
Porträts

„Wir müssen Alternativen zum Privatauto entwickeln!“

État / Zustand
Lyon I Valentin Lungenstrass im Gespräch
Image principale / Bild
Thumbnail
v. Lungenstrass Photo Rolf Schulten
Légende
Foto: Rolf Schulten
Accroche / Aufhänger
Valentin Lungenstrass ist Beigeordneter des Oberbürgermeisters von Lyon und zuständig für Mobilität, städtische Logistik und öffentliche Räume. Mit uns sprach er über Lyons Ambitionen in Bezug auf eine nachhaltige Stadtplanung und stellt uns Alternativen zum Privatauto vor, die den Lyoner Verkehr dekarbonisieren sollen.
Contenu / Inhalt
Texte / Text

Die Stadt Lyon wurde kürzlich zur erfolgreichen Teilnehmerin der von der Europäischen Union ins Leben gerufenen Initiative „100 klimaneutrale und Smart Cities“ erklärt, die sich allesamt zum Ziel setzen, bis 2030 klimaneutral zu werden. Welche Bestrebungen verfolgt das Projekt im Hinblick auf eine nachhaltige Stadtentwicklung?

Wir freuen uns sehr darüber, dass wir von der Europäischen Union ausgewählt wurden. Ein ganzes Netzwerk aus Partnern, in dem sich Gebietskörperschaften, Unternehmen und Verbände aus der Region in Ausschüssen austauschen, war an der Bewerbung und den damit verbundenen Vorbereitungen beteiligt. Das hat uns ermöglicht, viele Mitstreiter für ein ehrgeiziges Vorhaben zu gewinnen.

Die nachhaltige Stadtentwicklung ist in der Tat ein großer Teil dieses Vorhabens. Ein Teil unserer Arbeit, der von meinem Kollegen Raphaël Michaud geleitet wird, setzt sich zum Ziel, Bauvorhaben und die Sanierung bereits vorhandener Gebäude umweltfreundlicher zu gestalten.

Wir untersuchen die eingereichten Baugenehmigungen und die zu verwendenden Materialien genauer, um herauszufinden, ob letztere aus biobasierten Rohstoffen bestehen – bspw. um Bauarbeiten mit Holz oder eine weitreichend optimierte Isolierung zu ermöglichen. In einem partnerschaftlichen und innovativen Ansatz haben wir zusammen mit allen Akteuren des Bauwesens eine Charta für städtebauliche und architektonische Qualität entwickelt. Diese ermöglicht es uns, dass wir uns gemeinsam in die angestrebte, „richtige“ Richtung entwickeln.

Ein weiteres Thema, das bei der Prüfung von Baugenehmigungen besondere Aufmerksamkeit erfordert, sind Freiflächen auf privaten Grundstücken. Das ist ein wesentlicher Punkt, denn wir wollen der Herausforderung der Begrünung der Stadt gerecht werden. Und privater Raum kann stark dazu beitragen, indem er dort Freiland schafft, wo man noch vor kurzem die gesamte Fläche versiegelt hätte.

Die Begrünung erfolgt aber auch über den öffentlichen Raum, sei es durch Parks oder Verkehrswege – so soll die Biodiversität gefördert und grüne Inseln geschaffen werden. Durch die Begrünung tragen wir auch dazu bei, dass das Regenwasser besser im Boden versickert. Das bedeutet, dass man den Boden entsiegeln und sinnvolle Vorrichtungen einbauen muss, um das Versickern des Wassers von der Straße her zu ermöglichen. Man bricht also mit der Idee der Kanalisation für ein besseres Wassermanagement auf städtischer Ebene.

Wenn man vom ökologischen Wandel spricht, ist das Verkehrswesen ein entscheidender Faktor, der die Städte strukturiert. Was denken Sie, als zuständiger Bürgermeister für diese Fragen, wie nachhaltige Mobilität gefördert werden kann?

Wenn man an nachhaltige Stadtentwicklung denkt, kommt man schnell auf die Frage nach der Mobilität und die Dringlichkeit eines Übergangs auf diesem Feld zu sprechen. Es muss schnellstmöglich ein, wie ich es nenne, „Strauß an Alternativen“ zum Privatauto gefunden werden, um den Verkehr zu „entkarbonisieren“: öffentliche Verkehrsmittel, Fahrradfahren oder zu Fuß gehen, Carsharing, Mitfahrgelegenheiten, …

Unser Mandatsplan zielt darauf ab, bis 2026 die Investitionen zum Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs im Vergleich zur vorherigen Amtszeit zu verdoppeln.

So planen wir beispielsweise die Einrichtung von drei neuen Straßenbahnlinien und einem neuen, besonders komfortablen Bus. Außerdem werden wir mit großem Einsatz die Frequenzen der bestehenden Linien erhöhen und die Förderung von Elektro- und Erdgasfahrzeugen vorantreiben. Wir haben auch ein solidarisches Preismodell eingeführt, bei welchem man entweder kostenlos oder für 10 € pro Monat fahren kann, sowie Ermäßigungen für Studierende, Familien, u. v. m.

Gemeinsam mit der Stadt arbeiten wir besonders an alternativen Möglichkeiten für „aktive Mobilität“ (Fahrradfahren, zu Fuß gehen). Das geschieht zum Beispiel durch die Schaffung eines neuen Verkehrsnetzes, der „voies lyonnaises“. Dabei handelt es sich um ein 250 km langes Netzwerk aus abgesicherten Radwegen, die nicht als parallele Neukonzeption zu bestehenden Wegen gedacht sind, sondern als tatsächliches Verkehrsnetz. Dazu wurden die Strecken untersucht und eine Beschilderung mit Linienführung, Nummern und Farben erdacht, genau wie bei einem Bus- oder U-Bahn-Netz, um sicheres Radfahren für alle Altersgruppen so einfach wie möglich zu gestalten.

Und da Lyon eine geschichtsträchtige Stadt mit geschütztem Erbe ist, stehen wir bei der Gestaltung des öffentlichen Raums, der begrenzt und nicht erweiterbar ist, vor einer besonderen Herausforderung. Diese Problematik steht offensichtlich in einem engen Zusammenhang mit der Frage nach der Mobilität – denn öffentlicher Raum muss anders aufgeteilt werden, insbesondere wenn man ihn begrünen möchte. Der Mobilitätswandel muss die Begrünung und andere Nutzungen des öffentlichen Raums erleichtern.

Bei einigen großen städtischen Projekten wurden die Weichen dafür gestellt, um die Anforderungen an deren Nachhaltigkeit weiter zu erhöhen. Können Sie uns dazu ein Beispiel nennen?

Ja klar! Das Projekt im Stadtviertel der Confluence ist mein Lieblingsbeispiel, vor allem, weil ich dort gewählt wurde und es mir ganz besonders am Herzen liegt. Es ist ein Gebiet, das neu bebaut werden soll und in dem daher viele neue Gebäude entstehen werden. Hier bietet sich die Gelegenheit, den Anteil an biobasierten Materialien signifikant zu erhöhen oder sogar Gebäude mit Holzkern zu konzipieren. Bezüglich des Energieverbrauchs und der Energiegewinnung haben wir uns dazu entschlossen, noch höheren Anforderungen gerecht zu werden, als es die höchste Stufe des Siegels „Bâtiments à Énergie Positive et Réduction Carbone“ (Gebäude mit positiver Energiebilanz und Karbonreduktion) verlangt, indem wir an der Isolierung, der Energiegewinnung durch Solarpaneele sowie an kollektiven und ökologischen Heizanlagen für Häuserblöcke arbeiten – alles mit dem Ziel, den Verbrauch zu senken.

Da dieses Viertel verkehrstechnisch bereits sehr gut erschlossen ist, wollen wir mit Blick auf eine verbesserte Mobilität dessen fußgängerfreundliche und autofreie Seite betonen. So schaffen wir nur minimal neue Parkplätze. Wir haben auch einen Verkehrsplan mit einem Rückbildungssystem erdacht, der sich am Prinzip der Superblocks in Barcelona orientiert, um den Anwohner:innen zu ermöglichen, sich öffentliche Räume wieder anzueignen, Platz für Begrünung zu gewinnen und Kinder sicher an der Straße spielen zu lassen.

Sie haben Ende September an dem ersten Treffen des zweiten Arbeitszyklus des Deutsch-Französischen Zukunftswerks in Berlin teilgenommen. Könnten Sie uns ein paar Eindrücke schildern und Ihre Erwartungen an die Arbeit des Zukunftswerks erläutern?

Wir hatten mit den teilnehmenden Städten einen sehr reichhaltigen Austausch. Was mir auffiel, sind die ganz ähnlichen Herausforderungen. Die Ansätze sind ebenfalls vergleichbar, daher ist es sehr lehrreich, wenn wir allgemeine oder auch sehr spezifische Informationen miteinander teilen. Ich denke, dass wir uns sehr stark von diesem Austausch inspirieren lassen können. Der Informationsaustausch über die unterschiedlichen rechtlichen Hintergründe war zwar ein wiederkehrendes, aber auch sehr aufschlussreiches Thema. Insbesondere über regulatorische Fragen im Zusammenhang mit Renovierungen oder Versorgungsnetzen wurde gesprochen.

Alle diese Punkte haben mich zu der Schlussfolgerung gebracht, dass der Austausch zwischen Gebietskörperschaften gefördert werden muss – sei es zwischen Deutschland und Frankreich oder auf europäischer Ebene. Denn dieser ermöglicht es, dass das Rad nicht immer wieder neu erfunden werden muss, dass die Entwicklung von Handlungsplänen vereinfacht wird, und vor allem, dass einem bewusst wird, dass die Kommunen viel mehr Macht haben, Dinge zu verändern, als sie denken. Wir konzentrieren uns oft auf Staaten und Regionen, die natürlich viele Mittel haben, aber die Gebietskörperschaften haben auch ziemlich viele Ressourcen und sie sind außerdem sehr engagiert!