Der Einsatz von Kultur für eine Region im Wandel
Loos-en-Gohelle ist eine ehemalige Bergbaustadt mit 6 800 Einwohner:innen, die seit dem Ende des Kohlebergbaus im Jahr 1986 einen so großen Wandel durchlaufen hat, dass die Gemeinde heute als Modell für ökologischen Umbau gilt. So hat Loos-en-Gohelle in alle Bereiche der nachhaltigen Entwicklung investiert: ökologisches Bauen, Wasser, Landschaft, Artenvielfalt, Abfall, Mobilität, Energie, sozialer Zusammenhalt. Die Gemeinde stützt sich stark und entschlossen auf Bürger:innenbeteiligung, die sie als wichtigen Pfeiler ihrer Strategie für den Wandel ansieht.
Dieser Wandel wurde häufig als ein Wandel „von schwarz zu grün“ beschrieben und erlangte sowohl in den Medien als auch in Politik und Wissenschaft große Aufmerksamkeit. Über die Rolle der Kultur als Werkzeug in diesem Transformationsprozess ist hingegen weniger bekannt. Im Juli 2021 hat das Zukunftswerk eine wissenschaftliche Studie beauftragt, um die Rolle partizipativer Kulturarbeit in dem von der Stadtverwaltung von Loos-en-Gohelle angestoßenen Wandel zu analysieren.
„Die Kultur legte den Grundstein für alles“: Eine Neuinterpretation von Kultur als Grundlage für Bürger:innenbeteiligung
Die Studie analysiert die Kulturpolitik der Stadt und dabei insbesondere die Einführung partizipativer kultureller und künstlerischer Projekte seit den 1980er Jahren. Projekte wie das Festival Gohelliades und der Verein Culture commune repräsentieren demnach einen „beziehungsorientierten Ansatz der Kultur, die jedes Mal als eine Möglichkeit gedacht wird, Verbindungen und Bindungen zu schaffen, ohne dass diese zu rückwärtsgewandten Fixierungen werden“ (S. 2). Laut einem interviewten Kommunalpolitiker hat die Kultur es der Verwaltung und den Einwohner:innen ermöglicht, sich ihre Vergangenheit ohne Romantisierung oder Nostalgie nach der Bergbauära wieder zu eigen zu machen.
Loos-en-Gohelle ist nicht die einzige Kommune, die den Kohleausstieg durch kulturelle und künstlerische Aktivitäten begleitete: Diese Strategie wird seit den 1990er Jahren in der gesamten Bergbauregion Hauts-de-France verfolgt. Die vom Zukunftswerk veröffentlichte Studie vergleicht den Ansatz von Loos-en-Gohelle mit dem von zwei weiteren Kommunen in der Region, Wallers-Arenberg und Oignies, zwei Hochburgen der Bergbaukultur im Revier. Durch diesen Vergleich werden zwei Charakteristika des Ansatzes von Loos deutlich:
- Einerseits die Bereitschaft, die Bevölkerung in die Gestaltung von kulturellen und künstlerischen Aktivitäten einzubeziehen: Die Einwohner:innen sind somit nicht nur Zuschauer:innen, sondern Akteur:innen des Kulturlebens vor Ort.
- Andererseits das Zurückgreifen auf die narrative Methode: Diese wurde ursprünglich vom Verein Culture Commune eingesetzt und Anfang der 2000er Jahre von der Stadtverwaltung übernommen. Sie macht das „Erzählen von Geschichten“ zu einem Instrument des Zuhörens, der Mobilisierung der Bevölkerung und der lokalen Politikgestaltung.
Die Transformation von Loos-en-Gohelle stützt sich auf eine starke Bürger:innenbeteiligung, die „insbesondere durch die Akzeptanz gemeinsamer Kompetenzen von gewählten Vertreter:innen, Einwohner:innen und Kommunalbediensteten erreicht wird und somit auf Vertrauen und der Übernahme von Verantwortung beruht“ (S. 12).
Die Umgestaltung der Verwaltung führt zur Umgestaltung der Region
Ein derart intensiver Einsatz für die Bürger:innen stellte durch seine erhebliche zusätzliche Arbeitsbelastung den Regelbetrieb der Looser Verwaltung und ihrer Fachdienste zunächst auf eine harte Probe. Nachdem die Stadtverwaltung von Loos-en-Gohelle in den 2010er Jahren ganz offensichtlich überlastet war, führte sie eine interne Reflexion und Begleitung ein, mit dem Ziel, die gewählten Vertreter:innen und Mitarbeiter:innen so gut wie irgend möglich dabei zu unterstützen, eine andere Arbeitshaltung zu verankern.
„In der Welt des kommunalen öffentlichen Dienstes steht ‚es machen wie in Loos-en-Gohelle‘, wie einige unserer Gesprächspartner:innen sagten, für einen besonderen Weg, für Lernprozesse, dafür, bestimmte Codes und bürokratische Ansätze zu durchbrechen.“ (S. 33)
Außerdem hat Loos-en-Gohelle auf die Evaluation und Verbreitung seiner Erfahrungen gesetzt, indem es die Gründung von Einrichtungen wie der Fabrique des transitions und Villes Pairs – Territoires pilotes de la transition mitinitiiert hat. So konnten Methode und Arbeitsweise von Loos-en-Gohelle besser verstanden, bewertet und über die Bergbauregion hinaus bekannt und angewandt werden.
Bürger:innenbeteiligung und das Transfomationsprojekt von Loos-en-Gohelle aus der Sicht der Einwohner:innen
Im Rahmen der Studie wurde eine Umfrage unter Looser Einwohner:innen durchgeführt. Ohne statistisch repräsentativ für die Meinung der gesamten Bevölkerung von Loos-en-Gohelle zu sein, spiegeln die Stichproben der 100 Fragebögen die Vielfalt der verschiedenen sozialen und lokalen Lebenslagen in der Stadt wider.
Eine überwiegend zufriedene und bemerkenswert engagierte Bevölkerung von Loos-en-Gohelle
Die Umfrage zeigt, dass die Bevölkerung von Loos-en-Gohelle sehr stark in ihrer Region verwurzelt ist und dass ihr Engagement für das lokale Leben bemerkenswert groß ist. Anhand der Antworten auf den Fragebögen haben die Forscher:innen drei Einwohner:innenprofile erstellt. Diese Profile wurden auf der Grundlage der Verbundenheit der Einwohner:innen mit der Region und ihres Stolzes, Looser:in zu sein, sowie ihrer Beziehung zur Stadtverwaltung und ihrer Lokalpolitik erstellt:
- Die „positiven“ Profile (61 % der Befragten) drücken eine allgemeine Zufriedenheit mit dem Wandel ihrer Stadt und den Maßnahmen aus, die die Stadtverwaltung seit den 1980er Jahren umgesetzt hat.
- Die „negativen“ Profile (5 % der Befragten) drücken aus, dass sie mit der Lokalpolitik nicht einverstanden sind.
- Die Profile „enttäuscht“, „neutral“ oder „zwiegespalten“ (34 %) drücken eine Unzufriedenheit mit dem Image der Stadt oder ihrer Beziehung zur Stadtverwaltung aus. Ihre Antworten deuten jedoch weniger auf eine Ablehnung des Projekts oder des kommunalen Handelns in Loos-en-Gohelle hin, als vielmehr auf alltägliche Sorgen wie Schmutz oder eine ungenügende Instandhaltung des öffentlichen Raums.
Die Umfrage zeigt auch, dass die Beteiligung am lokalen Vereinsleben nicht nur den reichen Einwohner:innen oder den Hochschulabsolvent:innen vorbehalten ist, wie es im übrigen Frankreich meist der Fall ist. Das Projekt von Loos-en-Gohelle schafft es, nahezu die gesamte Bevölkerung in die Aktivitäten der Stadt einzubeziehen, trotz anhaltender sozioökonomischen Schwierigkeiten oder Veränderungen im Bereich des Ehrenamts und des Engagements in Vereinen, die landesweit zu beobachten sind.
Die Herausforderungen der Erneuerung
Die Studie zeigt jedoch auch, dass die kulturellen und künstlerischen Aktivitäten, die Anfang der 1980er Jahre ins Leben gerufen wurden, wie das symbolträchtige Festival Gohelliades, an Schwung verloren haben. Ein befragter Akteur aus dem Vereinswesen unterstreicht den generationsspezifischen Charakter dieses Abflauens: „Der Bergbau sagt den Jugendlichen so gut wie nichts. […] Die Bergbauidentität, […] die Karte der [kohl]schwarzen Region, das ist schwierig für die Jugend, und auch für eine Generation davor.“ (S. 19).
In der Weiterentwicklung von Loos-en-Gohelle müssen demnach die Strategien, die Anfang der 1980er Jahre eingesetzt wurden, angepasst werden. Die Bewährungsproben der Vergangenheit können auch eine Möglichkeit sein, neue Formen kultureller und künstlerischer Aktivitäten zu entwickeln, die eine Brücke zwischen der Suche nach regionaler Erneuerung durch die Kultur und den gegenwärtigen Herausforderungen des ökologischen Wandels schlagen.
Die Studie im Überblick
- Durchführung: Juli bis Dezember 2021
- Forschungskonsortium bestehend aus 5 Forscher:innen der renommierten Hochschule für Ingenieurswissenschaften MINES ParisTech und der Forschungs- und Beratungsagentur WAW
- 20 teilstrukturierte Interviews mit Mitarbeiter:innen der Stadtverwaltung, Gemeinderät:innen, Forscher:innen, Projektträger:innen aus dem Kulturbereich und Vertreter:innen anderer öffentlicher und privater Einrichtungen
- Umfrage unter 100 Einwohner:innen von Loos-en-Gohelle (von Tür zu Tür und im öffentlichen Raum, z.B. auf dem Markt)
Florentin D., Veys M., Beaussier T., Blache M., Schwartz C.: Transition systémique et nouvelles écologies territoriales. A la recherche du modèle loossois, Forschungsbericht für das Deutsch-Französische Zukunftswerk, Paris 2021.
Den vollständigen Forschungsbericht (Sprache: Französisch) finden Sie unten zum Download (134 Seiten, PDF, 2.81 MB).