Entsteht im Quartier die Stadt von morgen?
Von Thomas Spinrath
Übersetzung ins Französische von Marie Millot-Courtois und Marion Davenas
Vielstöckige, langgezogene Gebäuderiegel aus den 1960er- und 1970er-Jahren prägen das Stadtbild im Münchner Stadtteil Neuaubing-Westkreuz. Vor zehn Jahren hatten viele der Gebäude schlecht gedämmte Fassaden, alte Fenster und eine überwiegend fossile Energieversorgung. 2013 fiel dann der Startschuss für ein energetisches Quartierskonzept im damaligen Sanierungsgebiet. Die Landeshauptstadt erstellte, gefördert vom KfW-Programm 432 Energetische Stadtsanierung - Klimaschutz und Klimaanpassung im Quartier, ein integriertes Konzept, welches neben der sozial verträglichen Sanierung auch den Ausbau von Mobilitätsstationen vorsah. Um Schwung in die Umsetzung zu bekommen, investierte die Stadt München ab 2016, gefördert vom EU-Programm Smarter Together, rund 20 Millionen Euro in das Quartier sowie das angrenzende Freiham. Seitdem ist es gelungen, Neuaubing-Westkreuz zu einem energetischen Vorzeigequartier in München umzubauen. Wie konnte diese Transformation des Gebäudebestands gelingen?
Anstoßwirkung im Quartier
Die Herausforderung in Neuaubing-Westkreuz war, dass die Wohnungen vielen einzelnen Wohnungseigentümergemeinschaften gehören. Da Kommunen ordnungsrechtlich in Bestandsquartieren kaum eingreifen können, gilt es die einzelnen Eigentümer:innen zu motivieren und in der Akquise von Fördermitteln zu unterstützen. Ein erfolgreiches Beispiel dafür ist die Sanierung eines neunstöckigen Gebäuderiegels einer Wohnungseigentümergemeinschaft im Quartier. Eine Hausgelderhöhung konnte vermieden werden, weil die Sanierungsmaßnahmen Photovoltaikausbau und Gebäudedämmung kombinierten. Zudem beriet die Landeshauptstadt beim geschickten Fördermitteleinsatz. „Eigentlich werden Sanierungsmaßnahmen finanziell von der Landeshauptstadt, von Freistaat und Bund gefördert“, erläutert Denise Kirchner, die im Referat für Stadtplanung und Bauordnung der Landeshauptstadt den Klimaquartiersansatz betreut. „Wir müssen den Menschen vor Ort jedoch durch den Förderdschungel helfen“, betont die Stadtplanerin.
Das Vorbild des ersten Gebäuderiegels regte in der Folge weitere Wohnungseigentümergemeinschaften an, ebenfalls eine Sanierung zu beginnen. Insgesamt stieg die Sanierungsrate im Stadtteil von 1,95 Prozent im Jahr 2014 auf 3,60 Prozent im Jahr 2020. Das bedeutet im Zeitraum von 2016 bis 2021 mehr als 42.000m² energetisch sanierte Wohnfläche. Dr. Tilman Hesse forscht am Öko-Institut und war an der Studie „Klimaneutralität München 2035“ für die Stadt München beteiligt. Er bewertet den Quartiersansatz in Neuaubing-Westkreuz als richtungsweisend für eine Großstadt: „Das Klimaquartier zeigt den Vorteil der Größenordnung Quartier: Wir können beobachten, dass eine erfolgreiche Sanierung ins Quartier ausstrahlt und andere Eigentümer:innen zur Sanierung motiviert.“
Nachhaltige Wärmeversorgung im Quartier
Ortswechsel nach Sachsen. Die lokale Wärmewende im Chemnitzer Stadtteil Brühl illustriert einen weiteren Grund, warum der Fokus auf die Quartiersebene auch für die klimaneutrale Wärmeversorgung erfolgsversprechend ist. Die Umstellung von Wärmenetzen auf erneuerbare Wärmequellen erfordert ein Umdenken in der Infrastruktur. Die Wärmeversorgungsleitungen im Gründerzeitviertel Chemnitz-Brühl unweit des Hauptbahnhofes wurden daher vom stadtweiten Fernwärmenetz abgetrennt und in ein modernes Niedertemperaturwärmenetz umgebaut. Durch den Umbau in ein LowEx-Wärmenetz auf Quartiersebene kann ein Teil der Wärme seit 2016 aus Solarthermie gewonnen werden, welche an einen Wärmespeicher gekoppelt ist.
Zusätzlich erforderte die regenerative Wärmeversorgung die Sanierung des historischen Gebäudebestandes. Aus diesem Grund erstellte die Stadt Chemnitz zusammen mit der Technischen Universität und dem lokalen Energieversorger ein energetisches Quartierskonzept. Das Bundesförderprogramm Energetische Stadtsanierung förderte genauso wie in München-Neuaubing-Westkreuz finanziell die Konzepterstellung und Sanierungsberatung. Für die Umsetzung der Sanierungsmaßnahmen erhielt die sächsische Stadt außerdem Mittel aus dem Städtebauförderprogramm Aktive Stadt- und Ortsteilzentren. Mit den Worten „kluges Kombinieren“ beschreibt Grit Stillger, die Abteilungsleiterin Stadterneuerung im Stadtplanungsamt der Stadt Chemnitz, diese Vorgehensweise. Bis 2022 gelang es, 90 Prozent des Gebäudebestands energetisch zu sanieren und den Leerstand in Brühl von 90 auf 10 Prozent zu senken.
Das Zukunftswerk fragt: Wie von Pilotprojekten in die Breite kommen?
Die beiden Beispiele aus München und Chemnitz zeigen, wieso Städte gerade auf Quartiersebene den Anstoß geben können, den Gebäudebestand fit für die Zukunft zu machen. Bisher beschränkt sich der Ansatz wie in vielen anderen Städten in Deutschland jedoch auf einzelne Pilotquartiere. Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) begleitete mit seiner Forschung zwischen 2018 und 2022 Quartiersansätze in zahlreichen deutschen Städten, die durch das Bundesförderprogramm Energetische Stadtsanierung unterstützt wurden. Die Begleitforschung zieht nach vier Jahren die Schlussfolgerung, dass nun Städte vor der wichtigen Aufgabe stehen, den Ansatz in der Breite zu etablieren: „Die Realisierung zentraler Maßnahmen, etwa der Umbau der Wärmeversorgung, nimmt in vielen Fällen Zeiträume von bis zu zehn Jahren in Anspruch. Um den Zielhorizont der Klimaneutralität erreichen zu können, ist es deshalb wichtig, jetzt mit der Konzeptentwicklung in der Breite zu beginnen und alle Möglichkeiten zur Verbreitung des Quartiersansatzes auszuschöpfen.“
Auch in Frankreich stoßen die Erfahrungen aus Chemnitz und München auf großes Interesse. Dies zeigte sich während des Auftakttreffens des Deutsch-Französischen Zukunftswerks am 18. und 19. Oktober mit französischen und deutschen Kommunen in Berlin. Das Zukunftswerk wird daher durch vertiefte Peer-Dialoge zwischen kommunalen Vertreter:innen genauer hinschauen: Unter welchen Voraussetzungen lässt sich der Quartiersansatz von Pilotquartieren auf eine ganze Stadt skalieren? Welche Elemente des Ansatzes können Vorbildfunktion für französische Kommunen haben?