Vorhandenen Wohnraum besser nutzen: eine Herausforderung für Kommunen
Von Marion Davenas
Aus dem Französischen übersetzt von Annette Kulzer
518 000: So viele zusätzliche Wohnungen benötigt Frankreich jährlich bis zum Jahr 2040. Und auch in Deutschland macht der Wohnraummangel regelmäßig Schlagzeilen. Um diesem entgegenzuwirken, setzen die beiden Länder verstärkt auf Strategien des Neubaus, obwohl der Sektor einen deutlichen Abschwung erlebt.
Neubau ist jedoch nicht der einzige Lösungsansatz. Laut Forscher Daniel Fuhrhop könnte eine bessere Nutzung des vorhandenen Bestands ganz ohne Neubauten genauso viel Wohnraum schaffen, wie 100 000 neu gebaute Wohnungen pro Jahr. Denn in beiden Ländern gibt es ungenutzte Potenziale im Wohnungsbestand. In Frankreich schätzt das Nationale Institut für Statistik und Wirtschaftsstudien Insee, dass die Hälfte aller Hauptwohnsitze stark unterdurchschnittlich genutzt werden. Die abnehmenden Haushaltsgrößen, die Alterung der Bevölkerung und die Tendenz zu mehr Einfamilienhäusern tragen zu diesem Trend bei. Die steigende Anzahl an Leerständen und Zweitwohnsitzen verstärkt dies noch weiter.
Ein Trend mit gravierenden ökologischen Auswirkungen
Diese Zahlen sind nicht nur im Hinblick auf die Immobilienkrise besorgniserregend, sondern gleichermaßen für den Fortschritt des ökologischen Wandels. So ist der Wohnbausektor der Hauptverursacher der Flächenversiegelung von Natur-, Wald- und Agrarland. Die Zunahme der bewohnten Fläche pro Person führt auch zu einem erhöhten Energieverbrauch, der zum Teil die – durch energetische Sanierung oder neue, effizientere Wohnungen – erzielten Fortschritte wieder zunichte macht.
Während dieses Problem allgemein viel zu wenig Beachtung erfährt, schaffen einige Kommunen Maßnahmen einer suffizienteren Immobiliennutzung und fördern die stärkere Nutzung des vorhandenen Bestands. Diese Lösungsansätze waren Gegenstand eines Peer-Dialogs, der im Februar 2024 vom Zukunftswerk organisiert wurde.
Lokale Initiativen stellen vielfältige Ansätze vor
Leerstand mobilisieren, zum Umzug ermutigen, wenn sich die Bedürfnisse ändern, Anpassungsmaßnahmen von Wohnungen unterstützen, gemeinschaftliche Wohnformen fördern... Die Vielfalt der Strategien, die während des Dialogs vorgestellt wurden, spiegelt die Komplexität der zu bewältigenden Herausforderungen wider.
In Muttersholtz im Elsass wurde durch eine Kombination aus Steuern auf Leerstand und der Begleitung der Eigentümer:innen zur energetischen Sanierung innerhalb von fünf Jahren das Äquivalent einer neuen Siedlung geschaffen - ganz ohne Neubauten. In Freiburg im Breisgau erleichtert eine Wohnungstauschbörse die Wohnmobilität und bietet eine Prämie für den Umzug in eine kleinere Wohnung an. Und um der steigenden Nachfrage nach Unterkünften für Studierende gerecht zu werden, führte die französische Stadt Brest eine Kommunikationskampagne durch, in der die Einwohner:innen, insbesondere Senior:innen, dazu ermuntert wurden, ein leerstehendes Zimmer zu vermieten.
Für Albane Gaspard, Leiterin der Abteilung Zukunftsforschung für Gebäudebestand und den Immobiliensektor bei der französischen Agentur für Umwelt und Energie ADEME, verdeutlichen die vielfältigen Beispiele die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels: Wir müssen von dem einseitigen Ansatz absehen, den Wohnungsbedarf durch Neubauten auf Brachland zu decken – und uns multidimensionalen Lösungen zuwenden, die auf eine bessere Auslastung des vorhandenen Bestandes abzielen.
Vielzählige Hemmnisse und Hürden
Die Hindernisse sind ebenso vielfältig. In erster Linie sind sie wirtschaftlicher Natur: Mieter:innen einer großen Wohnung, in der sie schon lange wohnen, müssen nach einem Umzug höchstwahrscheinlich eine höhere Miete zahlen – selbst, wenn sie in eine kleinere Wohnung ziehen. Ein Problem, für das Vertreter:innen deutscher Wohnungstauschbörsen und Mieterverbände eine Lösung vorschlagen: Sie regen an, das Recht auf einen Wohnungstausch bei gleicher Miete gesetzlich zu verankern. In Österreich gibt es eine solche Regelung schon seit den 1980er-Jahren.
Doch die Hemmnisse sind auch emotionaler Natur: Wir haben eine starke Bindung zu unserem Wohnraum und dessen Umgebung. Daher sei es wichtig, Wohnmobilität auf Nachbarschaftsebene zu fördern, so Johanna Kliegel, Beraterin der WohnraumAgentur der Stadt Göttingen. Und der suffiziente Umgang im Gebäudesektor stößt sich auch an mächtigen kulturellen und sozialen Normen, wie dem Streben nach individuellem Wohnraum. Für Johanna Kliegel sind positive Anreize und eine umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit entscheidend, um suffizientere Wohnformen wie gemeinschaftliche Wohnprojekte, bekannt und erstrebenswert zu machen.
Um den Bewohner:innen von Einfamilienhäusern die Möglichkeiten einer „sanften Verdichtung“ zu geben, stellt das französische Startup Villes Vivantes einen innovativen Ansatz vor, der die Motivation und die Bedürfnisse von Hausbesitzer:innen in den Mittelpunkt stellt. Der Renteneintritt, der Auszug der Kinder, Renovierungsarbeiten... All dies sind Schlüsselmomente, die die Berater:innen von Villes Vivantes aufgreifen, um die Haushalte bei der Umgestaltung und künftigen Nutzung ihrer Immobilien zu begleiten. Paul Lempérière, Mitbegründer des Unternehmens, betont, wie wichtig es sei, auch sogenannte „Hirnzeit“, also die Zeit der Vorab-Überlegungen, finanziell zu unterstützen. Nur so könnten passgenaue Maßnahmen entwickelt werden, die private und öffentliche Interessen verbinden.
Was alle gemeinsam haben: Diese ambitionierten Projekte und Initiativen drehen die üblicherweise gestellte Frage um. Es geht nicht mehr (nur) darum, wie die Nachfrage nach neuem Wohnraum gedeckt werden kann – sondern darum, wie sie verringert werden kann, indem andere Arten des Wohnens und der Wohnraumerschließung entwickelt werden. Ein Paradigmenwechsel, der auch den Fachleuten der Branche bewusst zu werden scheint: Im Oktober 2023 appellierte eine Stellungnahme von 26 Akteur:innen der Immobilienbranche in der französischen Zeitung Le Monde an die kollektive Verantwortung der Branche, sich selbst in Frage zu stellen, um „den notwendig gewordenen Weg der Suffizienz im Immobilienbereich zu ermöglichen".
[1] Zukunftswerk, anhand von Daten aus dem DataLab, 2022, und Insee, 2017
[2] Statistisches Bundesamt, 2024
[3] Insee, 2024
[4] Statistisches Bundesamt, 2024