Umfassende Beteiligungskultur fördern

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Menschen rund um ein Modell des Stadtteil La Confluence
Légende
Foto: Deutsch-Französisches Zukunftswerk | Beteiligungsprozesse stärken nicht nur die Qualität geplanter Vorhaben, sondern auch ihre Akzeptanz bei den Menschen vor Ort.
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Damit die Neuverteilung und Umnutzung von Flächen im Sinne der Neuen Leipzig-Charta nachhaltig und gemeinwohlorientiert realisiert werden kann und um einer Eskalation von Konflikten vorzubeugen, müssen die Menschen vor Ort in einem den Vorhaben angemessenen Umfang in die Planung und Umsetzung von Stadtentwicklungsprojekten einbezogen werden.
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Doch dazu fehlt es Kommunen nicht nur an finanziellen und personellen Ressourcen, sondern teilweise auch an Know-How. Um die Entwicklung einer umfassenden Beteiligungskultur auf kommunaler Ebene zu ermöglichen, bedarf es effektiver Förderinstrumente auf nationaler und regionaler Ebene.

Eine nachhaltige Stadtplanungspolitik muss unterschiedliche Herausforderungen wie den wirtschaftlichen und demografischen Wandel, Klimawandel, Digitalisierung, Energieversorgung und Mobilität in Einklang bringen.

Für lokale Politik und Verwaltung sind daher oft schwierige Entscheidungen zu treffen: Verkehrswege müssen verändert, Parkplätze gestrichen und Grünflächen erhalten und ausgeweitet werden. Dabei steht folgendes auf dem Spiel: Sicherzustellen, dass die Umgestaltung des städtischen Raums sich durch Einbeziehung der Einwohner:innen tatsächlich am Gemeinwohl orientiert, sowie Ängste und Bedenken der Einwohner:innen besser zu berücksichtigen.

Existierende formelle Beteiligungsmöglichkeiten wie die Auslage von Plänen und die Gelegenheit zur Stellungnahme reichen oftmals nicht aus, um dies zu gewährleisten. Für informelle Beteiligungsformate fehlt es den Kommunen oft an Ressourcen, Zeit und Know-how.

Im Sinne der Neuen Leipzig-Charta, die eine gerechte und am Gemeinwohl orientierte Stadt fordert, empfiehlt das Deutsch-Französische Zukunftswerk, auf nationaler und regionaler Ebene (Régions oder Départements in Frankreich, Länder in Deutschland) Maßnahmen zu ergreifen, um eine umfassende Beteiligungskultur in der Transformation der Städte zu stärken. Nur dann kann eine kooperative Stadtentwicklung mit Einwohner:innen ermöglicht werden.

Accordéons
Titel
Fonds für frühzeitige Beteiligung einrichten
Description / beschreibung

Um Bürger:innen bereits in der Phase Null der Entwicklung von dafür geeigneten Stadtentwicklungsprojekten einbinden zu können, sollten Beteiligungsfonds zur Finanzierung informeller Beteiligungsprozesse eingerichtet und mit einer unabhängigen Prozessbegleitung, die Beteiligungsstandards garantiert, verknüpft werden.

 

In Frankreich sollten Partizipationsfonds als Ergänzung zu bestehenden nationalen Programmen auf Ebene der Regionen oder Départements angesiedelt werden. Die Fonds sollten bereits bestehende, nationale Programme ergänzen, indem sie:

  • finanzielle Mittel für die Beauftragung unabhängiger Expert:innen  zu bisher unberücksichtigten oder kontroversen Aspekten eines Entwicklungsvorhabens bereithalten, die kollektiv durch Bürger:innen  oder zivilgesellschaftliche Akteure abgerufen werden können.
  • genutzt werden, um die Teilnahme an Beteiligungsformaten zu erleichtern, bspw. durch Kinderbetreuung, Verpflegung, die Erstattung von Transportkosten usw.)

In Deutschland sollte ein Pilotfonds auf Bundesebene angesiedelt werden, mit dem Ziel:

  • lernende Verfahren aufzusetzen, welche eine frühzeitig angesetzte informelle Beteiligung erproben und prüfen, welche Wirkung sie entfalten können;
  • eine Anlaufstelle aufzubauen, an die sich sowohl Verwaltungen als auch zivilgesellschaftliche Organisationen wenden können;
  • Anreize zu setzen, damit Ergebnisse informeller Beteiligungsprozesse auch tatsächlich in die Planung einfließen (siehe Aktionsvorschlag zu „Prozessgaranten“)
  • Der zu leistende Eigenanteil bei der Förderung sollte für die antragstellenden Kommunen und Organisationen so gestaffelt werden, dass finanzschwache Akteur:innen mit bis zu 100 Prozent finanziert werden.
Titel
Bildungspaket für umfassende Beteiligungskompetenz einführen
Description / beschreibung

Partizipation in Ausbildungscurricula integrieren

Partizipation und Veränderungskommunikation sollten in die Curricula von Stadtplaner:innen, Architekt:innen und anderen räumlich-planerischen Fachrichtungen sowie auch in die Ausbildungscurricula an den Verwaltungsfachhochschulen in Deutschland und Frankreich integriert werden.

Die Association of European Schools of Planning (AESOP) überarbeitet momentan ihr Curriculum. Darin sollen künftig Bildungsbausteine zur Partizipation enthalten sein, so zum Beispiel zur Entwicklung praktischer Kompetenzen für die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und zur Organisation und Durchführung ko-kreativer Prozesse mit Einwohner:innen, Interessensgruppen und anderen Schlüsselakteur:innen.

Weiterbildungsangebote ausbauen

Um die notwendige Beteiligungskompetenz für Transformationsprozesse mit dem Ziel einer kooperativen Stadtentwicklung dauerhaft zu stärken, sollten für Deutschland zielgruppenspezifische Bildungsmodule für politische Entscheider:innen, Verwaltungen und die Zivilgesellschaft durch die Landes- bzw. regionale Ebene angeboten und in Frankreich bestehende Angebote harmonisiert und erweitert werden.

Die Akademie der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen bietet ein Online-Kolloquium zur Partizipation in der Freiraumplanung an. Ziel ist es, (Landschafts-) Architekt:innen nur an Anwendungsfällen orientierte Beteiligungsmethoden zu vermitteln, aber auch weiterzugeben, wie durch Beteiligung Identifikation mit dem geplanten Ergebnis entsteht.

Titel
Förderprogramme beteiligungssensibel gestalten
Description / beschreibung

Ausschreibungen auf europäischer, nationaler und Landesebene, bei denen die Bürger:innenbeteiligung einen hohen Stellenwert hat, sollten so ausgestaltet sein, dass eine frühzeitige Beteiligung ermöglicht wird. Durch zweistufige Verfahren könnten Ergebnisse einer Bürger:innenbeteiligung in die zweite Phase einfließen.

In der Schweiz gibt es den sogenannten Studienauftrag für komplexe Vorhaben, in der es ein zweistufiges Verfahren der Bewerbung gibt.

Titel
Den Einsatz von Prozessgaranten einführen oder ausweiten
Description / beschreibung

Nach Vorbild der Garants der Commission Nationale du Débat Public (CNDP – übersetzt: Nationale Kommission der Öffentlichen Debatte) sollten die nationalen Regierungen für Partizipationsprozesse auf lokaler Ebene unparteiische Gewährspersonen, sogenannte Garant:innen, zur Verfügung stellen, die sich für Qualität und Fairness des Prozesses einsetzen. Zu den Qualitätskriterien gehören zum Beispiel eine verständliche Aufbereitung von Informationen, die Möglichkeit für die Bürger:innen Fragen zu stellen oder ihre Meinung zu äußern sowie die Einhaltung der vereinbarten Regeln für ein respektvolles Miteinander. In Deutschland könnte ein Pool von „Prozessgaranten“ an der genannten Anlaufstelle im Rahmen des empfohlenen Pilotfonds angesiedelt sein. Für Frankreich sollte das Instrument auf die lokale Ebene ausgeweitet werden.

Die CNDP stellt für jedes der von ihr betreuten Verfahren sogenannte Garants, um sicherzustellen, dass in den Verfahren die Rechte auf Information und Partizipation so wie im französischen Umweltrecht verankert auch tatsächlich gewährleistet sind. Ähnliche Angebote gibt es auch in einigen Départements wie zum Beispiel Pyrénées-Atlantiques.

Titel
In Frankreich: Ein Recht auf Bürgeranfragen einführen
Description / beschreibung

Um die Beteiligung der Bürger:innen schon vor Beginn eines Projektes bis hin zur Umsetzung und ggf. darüber hinaus zu gewährleisten, ist es erstrebenswert, dass die gewählten Vertreter:innen den Bürger:innen gegenüber Rechenschaft über das Ergebnis der Beteiligung ablegen. Um die Mitsprachemöglichkeiten über das in der Verfassung verankerte Petitionsrecht hinaus zu erweitern, sollten Bürger:innen ein Anrecht erhalten Anfragen (Interpellation) zu stellen und damit die Agenda  in politischen Gremien (ähnlich wie das parlamentarische Interpellationsrecht) zu beeinflussen. Außerdem sollten gewählte Mandatsträger:innen und Ratsmitglieder zur Stellungnahme auf Anfragen aus der Bürgerschaft verpflichtet werden.

Mehrere Städte (unter Anderen Loos-en-Gohelle und Kingersheim) sind bereits freiwillige Verpflichtungen in diesem Sinne eingegangen, um den Einwohner:innen zu zeigen, dass Meinungen, die sie in partizipativen Prozessen äußern, berücksichtigt werden. So hat Grenoble im Jahr 2021  einen Modellversuch eingeführt, der die Stadt – unter bestimmten Voraussetzungen – verpflichtet, Vorschläge und Fragen von Bürger:innen zu berücksichtigen und dazu innerhalb von Ratssitzungen Stellung zu nehmen. Im Département Gironde wurde im Jahr 2023 ein „lokales und bürgerschaftliches Interpellationsrecht" eingeführt, um den Austausch zwischen Bürger:innen und dem Département zu erleichtern. In diesem Zusammenhang hat sich der Präsident des Départements erklärt, die postalisch oder per Mail eingegangenen Anfragen der Bürger:innen ernst zu nehmen und in der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen, auch wenn das im geltenden Petitionsrecht nicht erforderlich wäre.

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Erfahrungen und Impulse

Contenus des colonnes / Inhalt des Säules
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Miniatur-Planungsmodell des Areals der Esso Häuser
Esso-Häuser in Hamburg
Description / Beschreibung

Bei der Umgestaltung des Geländes der Esso Häuser in St. Pauli, Hamburg gab es ein breites Beteiligungsverfahren, dessen Ergebnisse in die Planung einflossen. Einwohner:innen forderten ihr Mitspracherecht ein. In der Folge wurde ein Planungsbüro beauftragt einen mehrmonatiger Beteiligungsprozess zu gestalten: Künstlerisch-planerische Tools und Workshops fanden in Kneipen, Kaschemmen und Seniorentreffs statt, oder am Bau-Areal selbst, wo ein Container aufgestellt wurde. Das Prozessteam entwickelte mit Hilfe der Erkenntnisse aus dem Prozess ein Anforderungsprofil für die öffentlichen Ausschreibungsunterlagen und verhandelte die Bürger:innen-Interessen des Stadtteils mit Bezirk und Investor. In der Umsetzung mussten die Wünsche der Bevölkerung berücksichtigt werden. Dazu zählte neben Flächen für eine Stadtteilkantine und einen Skatepark auch die Entscheidung gegen Eigentumswohnungen.

Mehr zum Projekt erfahren Sie hier.

Foto: Planbude

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Mittels explorativer Spaziergänge und Befragungen wird eine Kartografie der Nutzungen (links) erstellt. Auf dieser Grundlage wurde die endgültige Streckenführung (rechts) festgelegt.
Eine Tram für Saint-Étienne
Description / Beschreibung

Die französische Stadt Saint-Étienne hat mit dem human design-Ansatz neue Instrumente der Beteiligung entwickelt, um den städtischen Umbau gemeinwohlorientiert zu gestalten. So standen die Nutzer:innen bei der Planung einer neuen Tramtrasse im Vordergrund. Über ein Jahr hinweg – vor Beginn der konkreten Planung – führte ein Team aus Designer:innen und Soziolog:innen Befragungen und Stadtspaziergänge mit verschiedenen Nutzer:innengruppen durch. Dieser partizipative Ansatz beeinflusste maßgeblich die letztendliche Streckenführung. Trotz des ausführlichen Beteiligungsverfahrens konnte der Zeitplan des Baus eingehalten werden. Die Stadt sparte letztendlich sogar Kosten, da eine von den Anwohner:innen als unnötig empfundene Haltestelle gar nicht erst umgesetzt wurde.

Mehr zum Projekt erfahren Sie hier.

Foto: Auszüge aus der Präsentation des Projekts „Straßenbahn 3B“

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Politische Handlungsempfehlung 5 − Umfassende Beteiligungskultur fördern
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Factsheet: Nationale Kommission für öffentliche Debatten in Frankreich
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