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Transformation gemeinsam mit Einwohner:innen gestalten: Wie kann das gehen?

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Miniatur-Planungsmodell des Areals der Esso Häuser
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Foto: Planbude | Von Bewohner:innen mitgeschrieben: Die Leistungsbeschreibung für die Umgestaltung des Esso-Areals in Hamburg
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Kommunen beziehen Bürger:innen mit Beteiligungsverfahren in derartige Entscheidungsprozesse ein – und dennoch bleibt es eine Herausforderung, ihre Bedürfnisse ausreichend zu erfassen. Wir stellen Ihnen gelungene Beispiele aus Deutschland und Frankreich vor, die die städtische Transformation voranbringen.
Date de publication / Veröffentlichungsdatum
07.08.2023
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Bürger:innenbeteiligung ist in der Stadtplanung in Deutschland und Frankreich gesetzlich verankert. Wenn ein größeres Bauvorhaben geplant ist, muss die Öffentlichkeit rechtzeitig informiert und konsultiert werden. Über diese gesetzlichen Verpflichtungen hinaus setzen Kommunen unterschiedliche Instrumente der Bürger:innenbeteiligung ein, wie zum Beispiel Online-Konsultationen, öffentliche Aushänge oder moderierte Diskussionsrunden. In Frankreich spricht man daher von einer „mille feuille de participation“, einem ganzen Strauß der Beteiligungsmöglichkeiten. Doch zeigen Erfahrungen, wie die von Stuttgart 21, dass diese meist nicht ausreichen, um die Bedürfnisse der Einwohner:innen zu erfassen und ihnen tatsächliche Mitsprache einzuräumen. Bei dem großflächigen Umbau des Stuttgarter Bahnhofs wurden alle gesetzlich vorgeschriebenen Beteiligungsverfahren durchgeführt. Und dennoch kam es zu viel Widerspruch und Protesten in der Bevölkerung. Aber auch dort, wo sich weniger Widerstand regt, gehen die Bebauungspläne oftmals an den Bedürfnissen der Bewohner:innen vorbei. Einige Kommunen in Deutschland und Frankreich haben dieses Problem erkannt und Einwohner:innen frühzeitig in die sogenannte Phase Null der Planung städtischer Transformationsvorhaben eingebunden.

Die Planbude in Hamburg: kreative Lösungen mit Anwohner:innen

Wie die Umgestaltung der Esso Häuser in Hamburg geplant wurde zeigt, wie es gehen könnte. Das ca. 6.000 Quadratmeter große Areal befindet sich im historisch gewachsenen und sozial durchmischten Stadtteil St. Pauli direkt an der Vergnügungsmeile Reeperbahn. Die Anwohner:innen forderten Mitsprache ein, um den besonderen Charakter des Kiezes zu bewahren, bezahlbaren Wohnraum zu erhalten und öffentliche Freiräume zu erhalten. Der Bezirk reagierte und beauftrage die Planbude, ein unabhängiges transdisziplinäres Planungs-Büro, mit einem vorgezogenen Beteiligungsverfahren. Die Planbude mit einem Team aus den Bereichen Kunst, Kultur, Architektur, Stadtplanung, Urbanismus und Stadtteilarbeit konzipierte einen mehrmonatigen Beteiligungsprozess mit künstlerischen und planerischen Tools. Dieser passierte jedoch nicht hinter verschlossenen Türen oder online. Workshops fanden in Kneipen, Kaschemmen, Clubs und Seniorentreffs statt, oder am Bau-Areal selbst, wo die Planbude einen Container aufgestellt hatte. Dieser war über vier Monate hinweg mehrere Stunden täglich geöffnet. Passanten konnten hier einen Fragebogen auf Deutsch, Englisch, Russisch, Spanisch oder Französisch ausfüllen, zeichnen, malen oder Modelle aus Knete oder Lego entwerfen. Ziel der Planbude war es, so viele Menschen wie möglich zu erreichen – eben auch solche, die sich sonst eher nicht in ein öffentliches Konsultationsverfahren setzen würden: Jugendliche, ältere Menschen, Alleinerziehende oder Menschen mit Migrationshintergrund. Nach den vier Monaten wertete das Planbude-Team die zahlreichen Antworten qualitativ wie quantitativ aus, entwickelte daraus Anforderungen für die Ausschreibung und verhandelte diese Interessen des Stadtteils mit denen des Bezirks und des Investors. Anstelle von je 30 Prozent Eigentumswohnungen, frei finanzierten Mietwohnungen und Sozialwohnungen entsteht ein Wohnungsmix, der ausschließlich Mietwohnungen vorsieht, davon 40 Prozent frei finanziert und 60 Prozent staatlich gefördert. Überdies sind 2.500 Quadratmeter für (sub-) kulturelle und nachbarschaftliche Einrichtungen, wie einen Club, Proberäume, Beratungen und eine Stadtteilkantine vorgesehen, ebenso wie eine Kletterwand, ein Skateplatz, ein Park und ein Kunstspielfeld für Basketball sowie Erholungs- und Spielflächen für Mieter:innen auf den Dächern. Wie vorab vereinbart, mussten die Architekt:innenbüros dies in ihren Plänen berücksichtigen.

Der Design Ansatz in Saint-Étienne

Auch die französische Stadt Saint-Étienne hat neue Instrumente der Beteiligung entwickelt, um den städtischen Umbau gemeinwohlorientiert zu gestalten. So standen die Nutzer:innen bei der Planung einer neuen Tramtrasse im Vordergrund. Über ein Jahr hinweg vor Beginn der konkreten Planung führten ein Team aus Designer:innen und Soziolog:innen Befragungen und Stadtspaziergänge mit verschiedenen Nutzer:innengruppen durch. Dieser partizipative Ansatz beeinflusste maßgeblich die letztendliche Streckenführung. Trotz des ausführlichen Beteiligungsverfahrens konnte der Zeitplan des Baus eingehalten werden. Die Stadt sparte letztendlich sogar Kosten, denn die Anwohner:innen empfanden eine ursprünglich geplanten Haltestelle als unnötig (siehe unser Interview dazu mit der Stadtdesignerin von Saint-Étienne).

Bürgerbeteiligung in die Breite tragen

Die Beispiele aus Saint-Étienne und Hamburg sind jedes auf seine Weise besonders. Doch haben sie einige Gemeinsamkeiten: In beiden Fällen wurden die Anwohner:innen in die Planung einbezogen, noch bevor der Bebauungsplan vorlag, sodass Bedürfnisse und Nutzungsgewohnheiten der Bewohner:innen tatsächlich in die Planung einfließen konnten. Ebenso stützten sich beide Verfahren auf kreative Formate, die den Umbau der Stadt erfahrbar machen. Denn, so Prof. Dr. Renée Tribble von der Uni Dortmund: „Planungsprozesse sollten für Bewohner:innen greifbar werden. Ein Bebauungsplan ist für die meisten von uns unverständlich“. Hier könnten Städte auf Tools und Instrumente zurückgreifen, die bereits von verschieden Initiativen entwickelt wurden und genutzt werden wie zum Beispiel die Stadtmacher oder Projekte wie Urbane Praxis in Deutschland.

Doch nutzen Städte die Potenziale der informellen Beteiligung noch viel zu selten. Wie könnten solche Beteiligungsformen zur Regel werden anstatt Ausnahme zu bleiben?  Dies diskutieren Expert:innen aus Deutschland und Frankreich, die das Zukunftswerk aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Verwaltung zusammen bringt, um Handlungsempfehlungen an die nationalen Regierungen zu entwickeln. Trotz der unterschiedlichen Kontexte sind sich die Expert:innen aus beiden Ländern einig: „Wir brauchen eine stärkere Kultur der Beteiligung beim sozial-ökologischen Umbau unserer Städte!“ Nur dann können die Bedürfnisse der Einwohner: innen in der nachhaltigen Stadtentwicklung mitbedacht werden und Widerstände gegen Transformation erfolgreich abgebaut werden. Hindernisse, die einer solchen Beteiligungskultur im Weg stehen, sind jedoch zahlreich. Es fehlt vor allem den kleinen Kommunen an Finanzierung und Know-How, um Beteiligung durchzuführen. Auch sind die Fristen der städtebaulichen Förderinstrumente oft so knapp, dass eine frühzeitige informelle Beteiligung ausgeschlossen ist. Hier könnten bessere Rahmenbedingungen geschaffen werden, sodass Kommunen und Städte tatsächlich ihre Bürger:innen bei der Transformation mitnehmen und bestenfalls gemeinsam gestalten.

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Portrait Julia Plessing
Dr. Julia Plessing

Julia Plessing ist seit April 2021 wissenschaftliche Projektleitung beim Deutsch-Französischen Zukunftswerk, welches vom BMBF gefördert wird und am RIFS angesiedelt ist.

Von 2006 bis 2020 arbeitete Julia in der Entwicklungszusammenarbeit, zunächst bei der GIZ, dann als Gutachterin für Genderanalysen, Evaluation und Forschung im südlichen Afrika. Sie hat in Bologna, Brighton, Paris und Amsterdam Internationale Politikwissenschaften studiert und 2020 ihre Promotion (Thema: Challenging Elite Assumptions on Citizen Participation against Development Realities on the Ground) an der University of Johannesburg abgeschlossen.

https://www.rifs-potsdam.de/de/menschen/julia-plessing

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