Die Kraft des Austausches
Die ersten Reaktionen auf unsere Anfrage fielen auf beiden Seiten positiv, jedoch verhalten aus. Schließlich sind die Kolleg:innen aus beiden Projekten bereits stark ausgelastet und ein Dialog bedeutet einen weiteren Termin im vollgepackten Kalender. Doch bereits nach dem ersten virtuellen und simultan gedolmetschten Dialog am 19. Oktober 2021 war klar, dass es für beide Seiten äußerst spannend ist, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu diskutieren und zu reflektieren. Die Teilnehmenden vereinbarten bereits für zehn Tage später einen zweiten Dialog und baten das Zukunftswerk schließlich, doch gleich eine monatliche Serie daraus zu machen. Denn beide Projekte begehen Neuland und können wenig auf ähnlichen Erfahrungen in ihren jeweiligen Kontexten zurückgreifen.
Ähnliche Ziele – unterschiedliche Umsetzungsbedingungen
Auch wenn Euraénergie und die Stabstelle Strukturwandel im Burgenlandkreis (SSB) ähnliche Ziele bei der Begleitung der industriellen Transformation verfolgen, bewegen sie sich in unterschiedlichen Handlungsrahmen. Der Burgenlandkreis liegt im mitteldeutschen Kohlerevier in Sachsen-Anhalt. Seit der Wende 1990 hat die Region mit Deindustrialisierung, Verlust von Arbeitsplätzen, Wegzug junger Menschen und somit Leerstand und Überalterung der Bevölkerung zu kämpfen. Nun steht, festgelegt im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung bis „idealerweise 2030“, der Kohleausstieg bevor. Im Gegensatz zu den 1990er Jahren betrifft dies nur einen kleinen Teil der Bevölkerung – lediglich 1 % der Bewohner:innen des Burgenlandkreises sind direkt oder indirekt durch den Stellenabbau betroffen. Dennoch ist es ein weiterer Einschnitt und eine fundamentale Veränderung im sozio-ökonomischen Gefüge der Region.
Dünkirchen ist seit den 1950er Jahren großer Industriehafen und -standort und produziert über 20 % aller französischen industriellen CO₂-Emissionen. Gleichzeitig ist die Luft stark feinstaubbelastet. Nichtsdestotrotz setzt der Gemeindeverband heute darauf, seine Industrie durch Dekarbonisierungsmaßnahmen ökologisch(er) zu gestalten und die Energiewende durch den Ausbau erneuerbarer Energien voranzutreiben. Auch die Luftqualität soll erheblich verbessert werden, was wiederum der Gesundheit und der Lebensqualität der Bevölkerung zugutekommt. Dabei setzt Dünkirchen auf die Erfahrung der ansässigen Industrie.
Euraénergie ist für die Umsetzung des Transformationsprojektes „Dunkerque, l’énergie créative“ zuständig, welches das Ziel des industriellen Wandels, also die Industrie für eine grüne Zukunft „fit zu machen“, verfolgt (siehe auch das Gespräch mit Martine Monborren).
Euraénergie wurde vom Kommunalverband Dünkirchen und weiteren Akteur:innen als öffentliche Interessenvereinigung gegründet und bietet sein Dienstleistungsangebot an, um innovative Projekte zu begleiten.
Wer setzt Akzente in der Gestaltung der Transformation?
Generell kann man beobachten, dass der Strukturwandel im Burgenlandkreis von einem „top down“ Ansatz geprägt ist – das Strukturstärkungsgesetz des Bundes ist der maßgebende Rahmen, in dem die Stabsstelle agiert. Von Bundesebene sind Gelder verfügbar (1,7 Mrd. € für Sachsen-Anhalt), jedoch kann die SSB kein direktes Projektbudget gestalten. Jedes Einzelprojekt der SSB muss auf Landesebene geprüft und beantragt werden. Zudem haben die zuständigen Bundesministerien ein Vetorecht, sollte das Projekt nicht in die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie passen.
Das Projekt in Dünkirchen hingegen ist stärker von einem „bottom-up“ Ansatz geprägt – der Gemeindeverband hat zusammen mit Akteur:innen der Industrie erfolgreich an der nationalen Ausschreibung ‚Innovationsgebiete‘ (Territoires d’innovation) teilgenommen. Daraus ist das Projekt „Dunkerque, énergie créative“ hervorgegangen, das Fördermittel in Höhe von 37,5 Millionen Euro als Subventionen erhalten hat. Mit der Zusage des Projektantrags wurde der Finanzierung von 15 konkreten Maßnahmen zugestimmt, die allesamt aus der Feder des Gemeindeverbands stammen und nun von Euraénergie, gemeinsam mit den Akteur:innen aus der Industrie entwickelt und umgesetzt werden.
Beiden Seiten, den Kolleg:innen der SSB und Euraénergie ist klar: Es gibt keine Blaupause für ökologische Transformation und sie ist momentan noch mit vielen bürokratischen Hürden bestückt. Doch öffnet der Austausch Einblicke in andere Realitäten, die den eigenen Spielraum des Möglichen gedanklich erweitern.
Die Stabsstelle Strukturwandel verfolgt das Ziel, den Strukturwandel infolge des Ausstiegs aus der Kohleverstromung im Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt zu begleiten, indem sie Projekte selbst entwickelt und Projektanträge von Städten und Kommunen unterstützt. Die potenziellen Förderbereiche sind vielfältig, z.B. Berufsbildung, Tourismus, Digitalisierung, Renaturierung. Ein Fokus liegt auf der Einbindung der Bevölkerung durch Podiumsdiskussionen und Zukunftswerkstätten.