Eine Industrieregion erfindet sich neu
Was Dünkirchen als Initiative auszeichnet
Es ist der Blick in die Vergangenheit und in die Zukunft der Stadt, die Dünkirchen besonders machen. Der historische Industrie- und Hafenstandort erlebt seit der Schließung seiner Werft in den 1980er-Jahren intensive Maßnahmen zur Stadterneuerung – Aspekte der nachhaltigen Entwicklung stets im Blick. Um die Region zukunftsfähig zu machen und die doppelte Herausforderung, sozialer und ökologischer Natur, zu stemmen, entwickelte Dünkirchen Maßnahmen, um die ansässige Industrie umweltfreundlicher zu gestalten und setzt auf kostenlosen Nahverkehr.
Nichts hat den Industriestandort Dünkirchen in Nordfrankreich so stark geprägt wie sein Hafen. Die Stadt erhält durch ihn internationale Bedeutung. Als die Werften 1987 ihren Betrieb einstellten, gingen 6.000 Arbeitsplätze verloren. Zurück blieben brachliegende Molen mit einer 180 Hektar Fläche in unmittelbarer Nähe des Stadtzentrums. Um dieses ehemalige Industriegelände umzunutzen, realisierte Dunkerque groß angelegte Stadtentwicklungsprojekte mithilfe renommierter Planer:innen und Architekt:innen. 1989 wurde ein Architekturwettbewerb mit ungewöhnlichen Regeln ausgeschrieben, bei dem statt starrer Pläne und Modelle eine sich entwickelnde und anpassungsfähige „Idee der Stadt“ gesucht wurde. Der ausgewählte Stadtplaner, Richard Rogers, schlug mit dem Projekt Neptune einen Masterplan vor, der diese Brachflächen wieder nutzbar machen und die Industrie- und Hafenflächen neu gestalten sollte.
Damit wurden neue Verbindungen im städtischen Gefüge, beispielweise zwischen dem Stadtzentrum und dem Badeort Malo-les-Bains geschaffen. Die Umgestaltung des Piers – heute das Herz Dünkirchens – zu einem Raum für Kultur und zum Flanieren ist ein Erfolg, der ein großes Publikum anzieht. Die sogenannte Mole 1 beherbergt beispielsweise wichtige Anlauforte für die Stadtgesellschaft wie die Michel Raffoux Arena, die „Halle aux Sucres“ und ein Areal für Künstler:innen. Auch das Viertel Grand Large steht sinnbildlich für die Erneuerung der Stadt. Es entspricht den Grundsätzen der Charta von Aalborg aus dem Jahr 1994, die eine Dichte und eine Mischung der städtischen Funktionen im Dienst einer nachhaltigen Entwicklung postuliert.
Seit September 2018 ist das gesamte Busnetz der Communauté urbaine für alle Nutzer:innen kostenlos. Dunkerque ist damit die größte Stadt Frankreichs, die dieses System eingeführt hat. „Sie (die Einführung des kostenlosen Busses, Anm.d.R.) ist mit der sozialen und klimatischen Notlage verbunden. Mit den Gratisbussen zeigen Sie den Menschen, dass man sich umweltfreundlicher verhalten kann, ohne sie zu zwingen, und geben ihnen gleichzeitig ihre Kaufkraft zurück“, erklärt Bürgermeister von Dünkirchen und Präsident des Kommunalverbands, Patrice Vergriete, die Win-Win-Situation (Quelle: lefigaro.fr).
Die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel stieg innerhalb weniger Jahre stark an: Während die Bewohner:innen im Jahr 2015 nur 5 Prozent ihrer Wege mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegten, waren es 2019 bereits über 85 Prozent. Die Einführung der Gebührenfreiheit wurde von Umbaumaßnahmen begleitet, um den Platz des Autos zu begrenzen, das Netz auszubauen und den Zugang zum Nahverkehrsangebot zu erleichtern.
Mit fünf Buslinien im 10-Minuten-Takt sind nun 80 Prozent der Bevölkerung weniger als 300 Meter von einer Haltestelle und weniger als 20 Minuten vom Bahnhof Dünkirchen entfernt.
Der Industriestandort Dünkirchen verursacht über 20 Prozent aller französischen industriellen CO2 Emissionen. Der Gemeindeverband Dünkirchen möchte die ansässige Industrie durch Dekarbonisierungsmaßnahmen ökologisch(er) gestalten und die Energiewende durch den Ausbau erneuerbarer Energien vorantreiben, hat sich dafür mit Akteur:innen aus Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zusammengeschlossen und steuert im Rahmen der Initiative Dunkerque, l’Énergie créative („Dünkirchen, kreative Energie“) ein System von mehr als 76 Partnern. Gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Initiativen und Firmen werden beispielsweise Maßnahmen entwickelt, um die Luftqualität zu verbessern. Dabei konnte die Verwaltung von den Bemühungen der lokalen Industriebetriebe profitieren, die bereits seit den 1980er Jahren begonnen hatten, anfallende Abfallprodukte wie Abwärme im Sinne der Kreislaufwirtschaft gegenseitig nutzbar zu machen.
Außerdem verpflichtet sich Dünkirchen, das Gebiet des Gemeindeverbandes mit Ausnahme des Industriehafens bis 2030 klimaneutral zu machen. Dafür soll ein Stadt-Klima-Vertrag umgesetzt werden, der gemeinsam mit den Bürger:innen erstellt wird. Für seine Ambitionen wurde der Gemeindeverband mehrmals ausgezeichnet; so war die Stadt Dünkirchen Preisträgerin der EU-Mission 100 Klimaneutrale und intelligente Städte oder des französischen Programms Innovationsgebiete.
Die Zusammenarbeit mit dem Deutsch-Französischen Zukunftswerk
Wir möchten untersuchen, wie Dünkirchen wirtschaftliche Entwicklung, Umwelt- und Klimaschutz und sozialen Zusammenhalt miteinander in Einklang bringt. Dazu schauen wir auf die umfangreichen Herausforderungen und Lösungsansätze. Im Fokus stehen für uns folgende Fragen: Wie werden Dünkirchens Ziele in der Praxis umgesetzt? Wie gelingt es dem Gemeindeverbund, lokale und regionale Akteur:innen sowie die Bevölkerung in den Transformationsprozess einzubinden?
Dünkirchen in Bildern
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Wirtschaftlicher Kontext:
Das Industrie- und Hafengebiet von Dünkirchen spielt eine zentrale Rolle für die regionale Wirtschaft. Der Arbeitsmarkt in Dünkirchen wird von der Industrie dominiert, in der 30 Prozent der privat Beschäftigten tätig sind (im Vergleich zu 17 Prozent in Frankreich).
Politischer Kontext:
Der Kommunalverband Dünkirchen umfasst 17 Gemeinden. Vorsitzender des Verbandes ist der linksgerichtete Bürgermeister von Dünkirchen, Patrice Vergriete, der seit 2014 im Amt ist.
Chronologie:
1987: Die Schließung der Werften führt zum Verlust von Arbeitsplätzen und schafft Industriebrachen mitten im Stadtgebiet
1989: Ausschreibung des Architekturwettbewerbs für die Zusammenführung von Hafen und Innenstadt, den Richard Rogers mit seiner Agentur gewinnt.
2001: Gründung von Ecopal, einer Vereinigung von Wirtschaftsbetrieben, welche das Ziel hat, die ökologische Transformation der Industrie voranzutreiben
2005-2006: Umgestaltung des Stadtteils Grand Large als eines der letzten Projekte des Masterplans
2014: Eröffnung der Halle aux Sucres, einer ehemaligen Zuckerlagerhalle, als Begegnungsraum für nachhaltige Stadtentwicklung.
2015: Der Kommunalverband Dunkerque führt, zunächst nur am Wochenende, den kostenlosen Nahverkehr ein.
2018: Ausweitung des kostenlosen Nahverkehrs: Das gesamte Busnetz ist nun jederzeit kostenlos nutzbar.
2019: Dünkirchen wird vom französischen Staat als Region für Innovationen ausgezeichnet und erhält Fördermittel in Höhe von 37,5 Millionen Euro, um „Praxisbeispiel der Industrie des 21. Jahrhunderts“ zu werden.