„Wir wollen Karten sehen!“

Interview geführt von Robin Denz
Übersetzung ins Französische von Marie Millot-Courtois und Robin Denz
Frau von Haaren, wenn Sie eine Energieinfrastruktur wären, welche wäre das und warum?
Ich wäre eine Freiflächen-Photovoltaikanlage [lacht]! Eine naturverträgliche! Damit unter mir und neben mir etwas wächst, vielfältige Biotope entstehen und ich gleichzeitig Teil dieses Habitats wäre. In meinem Gestänge würden sich zum Beispiel Kleinvogelarten tummeln, die sonst Nischen- oder Heckenbrüter wären.
Spannend! Aber nun zu Ihrer fachlichen Expertise: Sie haben vor einigen Jahren das Bundesumweltministerium (BMU) zu Energieszenarien beraten. Worum ging es dabei konkret?
Wir, das heißt, wir von dem Forschungsprojekt EE100 der Universität Hannover, haben im Auftrag des BMU ein Modell entwickelt, um zu berechnen, wie viel erneuerbare Energie in Deutschland potenziell produziert werden kann – und zwar ohne den Naturschutz und die menschlichen Bedürfnisse zu beeinträchtigen. Anders ausgedrückt lautete die Frage also: Wie viel Strom kann unter Berücksichtigung aller Ausschlussflächen erzeugt werden?
Dazu haben wir die potenziellen Ausbauflächen nach ihrem Legitimitätsgrad klassifiziert: Zwischen „geeignet“ und „nicht geeignet“ haben wir zusätzlich eine unsichere Kategorie eingeführt. Das Ergebnis war, dass wir insgesamt relativ sicher 1,5 Prozent der Fläche Deutschlands für den Ausbau der Windenergie an Land nutzen können und mit teilweise hohen Unsicherheiten vielleicht sogar 3,7 Prozent.
Die Bundesregierung hat dann 2022 gesagt, „okay, mit zwei Prozent der Fläche dürften wir im sicheren Bereich liegen“ – dem würde ich auch zustimmen. Daraufhin wurde schließlich im Windenergieflächenbedarfsgesetz (WindBG, 2023) verankert, dass bis 2032 zwei Prozent der Fläche Deutschlands für die Windenergie ausgewiesen werden müssen.
Für die Bundesländer bedeutet das, je nach Windpotenzial und Bevölkerungsdichte, ein verbindliches Flächenziel zwischen 0,5 und 2,2 Prozent. Im Jahr 2024 wurden 14 GW Wind genehmigt, ein Rekordjahr! Auch für Frankreich ist das durchaus ein Modell mit Inspirationspotenzial. Dennoch stehen Sie diesen Flächenzielen auch kritisch gegenüber. Warum?
In unserer Analyse waren die Potenzialflächen je nach Bundesland sehr unterschiedlich verteilt. Sachsen-Anhalt zum Beispiel könnte relativ sicher sieben Prozent seiner Fläche mit Windrädern bebauen. In Nordrhein-Westfalen war das Potenzial aufgrund der Siedlungsstruktur mit 0,5 bis 1,2 Prozent deutlich geringer. Aus politischen Gründen wurde nun aber für alle Bundesländer – mit Ausnahme von Berlin, Bremen und Hamburg – ein Wert festgelegt, der in etwa um diese 2 Prozent herum liegt: für Sachsen-Anhalt nur 2,2 Prozent, für NRW wiederum nur schwer erreichbare 1,8 Prozent.
Gleichzeitig wurde für Freiflächen-Photovoltaik (FF-PV) kein entsprechendes Ziel festgelegt. Konkret bedeutet das: Während der Ausbau der Windenergie auf regionaler Ebene geplant wird, beginnen immer mehr Kommunen eigenständig mit dem Ausbau von FF-PV-Anlagen. Das geschieht weitgehend unkoordiniert und es werden im Zweifelsfall mehr Flächen bebaut als eigentlich notwendig.
Statt Flächenziele wären Energieziele sinnvoller gewesen – also pro Bundesland so und so viele Gigawatt bis 2032. Das hätte mehr Spielraum gelassen, um zu sagen: „Aha, wir haben dieses Energieziel und das können wir mit diesem und jenem Energiemix erreichen“. Auch der Spielraum für Bürger:innenbeteiligung wäre größer gewesen. In unseren Studien vor Ort haben wir festgestellt, dass ein solches Energieziel von den Bürger:innen besser verstanden und akzeptiert wird als ein abstraktes Flächenziel. Mit dem WindBG wird zwar endlich Tempo gemacht, gleichzeitig werden damit aber de facto sämtliche Beteiligungsmöglichkeiten auf lokaler Ebene außer Kraft gesetzt. Es gibt derzeit kaum Mitsprachemöglichkeiten wohin oder wieviel Wind implementiert werden muss. Das erscheint mir akzeptanz- und sogar demokratiegefährdend. Im schlimmsten Fall ist das ein Nährboden für die AfD. Wir befinden uns alle auf einem Transformationspfad mit vielen Unsicherheiten. Ich denke, wir brauchen hier eine Nachsteuerung.
Nun sind diese Windflächenziele da. Die Umsetzung wird das Landschaftsbild stark verändern. Das gilt auch für Freiflächen-PV. Wie kann man die Menschen trotzdem ins Boot holen? Das Dialogtool Vision:En 2040 setzt genau hier an, wir haben es getestet. Können Sie kurz zusammenfassen, wofür das Tool gut ist?
Grundsätzlich dient das Tool dazu, die lokale Ebene – im Rahmen dessen, was sie legitim entscheiden und verantworten kann – miteinzubeziehen. Gemeinden können es nutzen, um ihre Bürger:innen bei der Flächenauswahl zu beteiligen. Das schafft Transparenz und Akzeptanz für den gesamten Planungsprozess und kann Konflikte von vornherein vermeiden. Das Tool zeigt einen Zielwert für den Energieertrag der Gemeinde an. Auf interaktiven Karten können über Touchscreens von Interessierten Windräder, Frei- und Dachflächen-PV platziert werden. Angezeigt wird, welche Flächen dafür besonders geeignet (grün), bedingt bzw. nicht geeignet (gelb und orange) oder ausgeschlossen (rot) sind. Und ob damit der Zielwert erreicht wird.

Das Instrument dient auch– das ist uns aber erst im Nachhinein klar geworden – dazu, politisch extremen Tendenzen vor Ort den Wind aus den Segeln zu nehmen. Zum Beispiel, indem man verhindert, dass sich die AfD den Naturschutz inklusive Landschaftsbild auf die Fahne schreiben kann, weil das Gefühl vorherrscht, alle anderen Parteien würden dieses Thema links liegen lassen.
Ein Schritt zurück: Was ist die Entstehungsgeschichte dieses Tools, wie ist es dazu gekommen?
Die Idee geht mindestens auf das Jahr 2010 zurück, als wir im Rahmen eines Forschungsprojekts für Niedersachsen ein Energieszenarien-Brettspiel für Studierende entwickelt haben. Schon damals ging es darum, Anlagen zu platzieren und die Energieerzeugung zu berechnen – allerdings noch manuell.
Einige Jahre später haben wir ein ähnliches Spiel in einem Beteiligungsverfahren eingesetzt. Es ging um die Renaturierung eines Flusses, ein Projekt, gegen das die AfD extrem Stimmung gemacht hat. Wir haben dann die Leute selbst planen lassen, was mit dem Fluss passieren soll und warum. Und zum Erstaunen des Stadtrats hat sich herausgestellt, dass sich auch die AfD-nahen Teilnehmenden konstruktiv beteiligt haben. Diese Erfahrung hat mich erneut motiviert zu sagen: „Dieses Tool brauchen wir auch für die Energiewende!“
Eine zentrale Erkenntnis, die ich in Beteiligungsverfahren immer wieder mache: Die Menschen wollen oft nicht abstrakt über Konzepte reden, sondern sagen: „Wir wollen Karten sehen!“ Das heißt, sie wollen eigentlich wirklich mitplanen und wissen, wie es hinterher konkret aussehen soll.
Das Tool soll eine bessere Beteiligung bei der Flächenauswahl ermöglichen. Wie ist das Veranstaltungsformat aufgebaut?
Das Veranstaltungsformat basiert auf Bürger:innenversammlungen, die in der Regel von den Gemeinden selbst organisiert und beworben werden. Vor Ort sind neben den Bürger:innen oft auch Vertreter:innen der Gemeindeverwaltung oder des Gemeinderats anwesend. Die Bürgermeister:innen sind immer dabei. Die Teilnehmenden werden nach dem Zufallsprinzip in Fünfergruppen eingeteilt, um eine möglichst vielfältige Diskussion zu ermöglichen. In diesen Gruppen wird über die Flächenauswahl diskutiert, Unterschiede werden herausgearbeitet und die Ergebnisse schließlich an die Kommunalpolitik übergeben. In vielen Fällen hat das bereits dazu geführt, dass Gemeinden ihre Flächennutzungs- oder Bebauungspläne angepasst haben.
Im politischen Diskurs wird oft behauptet, dass die Menschen Windparks vor ihrer Haustür ablehnen. Unsere Erfahrung zeigt aber, dass sie nicht grundsätzlich dagegen sind – im Gegenteil, sie wählen die Standorte oft sehr pragmatisch und konstruktiv aus. Das sind Beispiele, die mir wirklich große Hoffnung in die Demokratiefähigkeit der Menschen geben. Man muss eigentlich gar keine große Angst vor den Bürger:innen haben.
Gab es bei diesen Veranstaltungen ein besonderes Aha-Erlebnis, das Sie gerne mit uns teilen möchten?
Ja! Bürger:innen haben ganz viel lokales Wissen, das merken wir immer wieder. Und das brauchen wir auch, denn unsere Datenlage ist bei vielen Flächen unsicher. Oft korrigieren die Menschen vor Ort unsere Karten.
Sie wissen zum Beispiel sehr genau, welche Gebäude in der Landschaft stehen. In einem Fall war es eine einfache Feldscheune. Das konnten wir aus unseren Geodaten nicht herauslesen. Deshalb hatten wir, wie bei jedem anderen Gebäude auch, einen Lärmschutzabstand gezogen. Nachdem aber klar war, dass diese Feldscheune rechtlich gar keinen Lärmschutz braucht, kamen die Flächen in unmittelbarer Nähe natürlich auch für Windräder in Frage.
Welche Zukunft wünschen Sie sich für das Tool?
Ich war kürzlich in Taiwan und Japan unterwegs. Dort ist das Tool auf großes Interesse gestoßen! Das ist nicht verwunderlich, dort gibt es natürlich ähnliche Probleme wie bei uns. Aber ich würde mir wenigstens wünschen, dass Gemeinden in ganz Deutschland freien Zugang dazu haben und auch die Regionalplanung damit arbeiten kann. Und warum nicht auch in Frankreich!
Vielleicht auch, dass es uns gelingt, die intensive wissenschaftliche Betreuung dieser Veranstaltungen teilweise durch einen wissenschaftlich kuratierten KI-Chatbot zu ersetzen, der die Fragen der Menschen vor Ort beantworten kann. Das hängt bisher noch sehr stark vom Fachwissen der Mitarbeitenden an den Universitäten ab.
Vielen Dank für das Gespräch!
Über Christina von Haaren
Christina von Haaren (*1954 in Bad Bederkesa) ist eine deutsche Landschaftsplanerin und Ökologin. Nach ihrem Diplom (1978) und ihrer Promotion (1986) an der Universität Hannover wurde sie 1998 Professorin für Landschaftsplanung und Naturschutz ebendort. Ihre Forschung umfasst Naturschutzmanagement in der Landwirtschaft, Klimaanpassung und Ökosystemleistungen. Sie war u.a. Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen und ist aktuell im wissenschaftlichen Beirat für Bodenschutz und weiteren Gremien aktiv. Von 2019 bis 2024 war sie Vizepräsidentin der Universität Hannover.