Eine enkeltaugliche Gemeinde
In den 1990er Jahren waren die Zukunftsaussichten von Nebelschütz nicht gerade rosig. Für den Bürgermeister Thomas Zschornak (CDU) war Nebelschütz damals „ein graues Dorf ohne Gesicht und ohne eine Idee, wo es hinwill. Es war sehr verschlossen, die Außenwelt war weit weg“.
Doch Nebelschütz hat eine Trendwende geschafft: Es gibt kein einziges leerstehendes Haus mehr im Ort. Während in vielen Nachbargemeinden die letzten Geschäfte und Kindergärten schließen, ist in Nebelschütz heute eine neu gebaute Kindertagesstätte voll besetzt. Die Arbeitslosenquote liegt mit rund drei Prozent deutlich unter dem Landesdurchschnitt. Wer nach Nebelschütz ziehen möchte, muss sich erst einmal in eine Warteliste eintragen!
Nebelschütz auf einen Blick
Nebelschütz liegt im Landkreis Bautzen im Osten des Bundeslands Sachsen, nahe der tschechischen und polnischen Grenze. Als Teil der Oberlausitz liegt Nebelschütz im sorbischen Siedlungsgebiet. Die Gegend ist durch die sorbische Kultur geprägt, zwei Drittel der Einwohner:innen von Nebelschütz sprechen die sorbische Sprache (verwandt mit dem Polnischen, Tschechischen und Slowakischen).
Die Gemeinde mit einer Fläche von 22,93 km2 besteht aus 5 Ortsteilen und zählt ca. 1.200 Einwohner:innen.
Nach der Wiedervereinigung verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage von Nebelschütz und der Region von Bautzen: Die Arbeitslosenquote lag im Jahr 1990 bei fast 20%. Während vor der Wende durchschnittlich 20 Kinder pro Jahr in der Gemeinde geboren wurden, waren es 1991/92 nur noch zwei. Bedingt durch die demographische Situation mussten damals die Schule sowie zwei von drei Kindergärten schließen. Auf den großen Flächen der Landwirtschaft und Tierzuchtanlagen waren nachhaltige Strukturen wie Feldwege und Entwässerungsgräben durch Überackerung verschwunden.
Engagement für nachhaltige Entwicklung
Wie hat Nebelschütz die Kehrtwende vom grauen zum enkeltauglichen Dorf bewerkstelligt?
Die Hauptmotivation für die Umstellung auf eine enkeltaugliche Entwicklung war für Nebelschütz der Aspekt der Nachhaltigkeit. Die lokale Transformation basiert auf dem Wille zu einer nachhaltigen Entwicklung, dem Erhalt der sorbischen Kultur und der Stärkung des sozialen Gefüges. Dies konnte dank eines „herzlichen, ökologischen, kreativen, sorbischen“ und vor allem „enkeltauglichen“ Ansatzes erreicht werden, so der Bürgermeister.
Seit 2004 ist Nebelschütz für die Einrichtung eines Ökokontos vom Freistaat Sachsen als „Pilotgemeinde für ökologische Ausgleichsmaßnahmen“ anerkannt. Unternehmen können ihre Umweltbelastungen durch die Finanzierung von ökologischen Ausgleichsmaßnahmen der Gemeinde kompensieren. Mit diesen Mitteln konnte die Kommunalverwaltung mehr als 100 Hektar Wälder, Wiesen und landwirtschaftliche Flächen zurückkaufen, die an Biobauer:innen verpachtet oder als Naturbiotope, Gemeinschaftsgärten oder Streuobstwiesen wiederhergestellt werden. Dieses Projekt heißt „Njebjesa“ („himmlischer Ort“ auf Sorbisch).
Die Dynamik und der ökologische Ehrgeiz von Nebelschütz, für den es mit dem „Europäischen Dorferneuerungspreis“ und der Silbermedaille im Bundeswettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ ausgezeichnet wurde, zeigen sich in zahlreichen weiteren Projekten. Zum Beispiel hat die Gemeinde einen alten Rinderstall gekauft und zu einem Bau- und Recyclinghof umgestaltet, in dem Bauabfälle aus abgerissenen Gebäuden sortiert und auf den Baustellen des Dorfes wiederverwendet werden können. Der Sauenzuchtbetrieb trägt zur Produktion von Biogas bei. Der neue Gemeindekindergarten (sorbisch und ökologisch) ist mit Solarzellen ausgestattet. Insgesamt produziert die Gemeinde dreimal mehr nachhaltige Energie aus Sonne, Wind und Biogas als sie verbraucht. Das Engagement für eine enkeltaugliche Entwicklung hat eine Firma dazu bewegt, ihre nachhaltigen und wirtschaftsdiversifizierenden Aquakultur-Projekte in Nebelschütz anzusiedeln.
Die ökologische Transformation wird in Nebelschütz durch eine Aufwertung der sorbischen Identität begleitet und genährt. Die Entscheidung für eine nachhaltige Entwicklung wird als Versöhnung mit den Werten der sorbischen Kultur dargestellt, die, wie die Natur, durch die Globalisierung bedroht ist. Die Anerkennung der Erinnerung an die sorbische Kultur, Fertigkeiten und Sprache schafft die Voraussetzungen für ein harmonischeres Verhältnis zur Umwelt, stärkt aber auch den sozialen Kitt der zweisprachigen Gemeinde und gibt den Bewohner:innen ein Gefühl von Stolz und Lust, Dinge gemeinsam auf die Beine zu stellen.
Alle Projekte der Gemeinde sollen eine Gelegenheit für die Bewohner:innen darstellen, sich aktiv einzubringen: Von der Erarbeitung der „Dorfentwicklungspläne“ bis zur Teilnahme an dorfübergreifenden Wettbewerben, von der Bewirtschaftung des Lebensmittelmarktes bis hin zur Organisation des Dorffestes. Die Kommunalverwaltung schenkt engagierten Bürger:innen Vertrauen und unterstützt besonders die Anfangsphase von zivilgesellschaftlichen Projekten, beispielsweise durch die Bereitstellung der notwendigen Infrastruktur oder der Finanzierung. Im Jahr 2001 kaufte die Gemeinde einen 15 Hektar großen ehemaligen Steinbruch und verwandelte ihn in ein soziokulturelles Zentrum. Betreut von einem lokalen Verein werden dort Bildhauer:innenworkshops, ein Gemeinschaftsgarten, eine Einführung in die Permakultur, und verschiedene kulturelle Veranstaltungen angeboten. Auch ein leerstehender Lebensmittelladen des Dorfes, wird von der Kommune seit 2017 zu sehr günstigen Konditionen vermietet, damit er im Wettbewerb mit den umliegenden Supermärkten standhält.
Zeitstrahl
1989 Fall der Mauer
1990 Schließung der Schule
1991 Thomas Zschornak wird Bürgermeister
2001 Erwerb eines 15-Hektar-großen ehemaligen Steinbruchs
2004 Pilotgemeinde für ökologische Ausgleichsmaßnahmen
2005 Errichtung eines Bau- und Recycling-Hofs
2006 1. Internationale Bildhauerwerkstatt am ehemaligen Steinbruch
2008 Europäischer Dorferneuerungspreis
2013 Neubau der Kindertagestätte im Dorfzentrum
2018 Ein Startup eröffnet eine nachhaltige Zuchtanlage für Riesengarnelen
2018 Erste Wahlen der sorbischen Volksvertretung
2019 Permakultur auf kommunalen Flächen beginnt
Nebelschütz erzeugt durch Solarenergie, Windkraft und Biogas dreimal mehr Energie als der Ort verbraucht. Das Zukunftswerk hat einen Dialog mit Initiativen des Projekts „Leben in zukunftsfähigen Dörfern“ organisiert - die teilnehmenden Ökodörfer sind ebenfalls Musterbeispiele für die ökologische Transformation.
Nebelschütz will mehr lokale Bioprodukte in der Kita des Ortes anbieten. Um die Gemeinde auf ihrem Weg einer Ernährungswende zu unterstützen, hat das Zukunftsforum den Dialog und Austausch mit Mouans-Sartoux initiiert. Die südfranzösische Kleinstadt gilt als Vorzeigekommune für die Umsetzung von biologischen Schulkantinen.
Nebelschütz im Podcast
"Le Podkast" vom Deutsch-Französischen Institut ist der erste Podcast über aktuelle Themen aus Deutschland in französischer Sprache. In dieser Folge berichtet Marion Davenas, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Zukunftswerk, vom erfolgreichen Aufhalten der Landflicht in Nebelschütz.